von Lutz Unterseher
Vorausgesetzt es gibt keinen nuklearen Kurzschluss, der uns allen ein vorzeitiges Ende bereitet: Wird der Krieg die Menschen bis in alle Ewigkeiten begleiten?
Die Staatswissenschaft älterer Art, insbesondere die politologische Denkschule des „Realismus“, hat in diesem Zusammenhang auf Aussagen des englischen Philosophen Thomas Hobbes verwiesen, der von 1588 bis 1679 lebte. Dieser konnte sich als einer der ersten europäischen Denker nüchtern und illusionslos von mittelalterlichen Heilserwartungen und manchen Utopien der Renaissance freimachen. In der ihm eigenen Zuspitzung formulierte er, dass der Naturzustand der Menschen im „Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes) bestehe. In der üblichen Interpretation wurde angenommen, Hobbes habe sein Diktum mit einer Art anthropologischer Konstante begründet – nämlich damit, dass der Mensch prinzipiell, und damit unabänderlich, von seiner Selbstsucht beherrscht werde.
Diese Sicht schien sich auch auf die Staatenwelt übertragen zu lassen – stehen doch nach Auffassung der „Realisten“ die einzelnen Staaten oder deren Zweckbündnisse in tendenziell anarchischer Konkurrenz zueinander, einer Konkurrenz, so insinuiert dieses Denkraster, die sich vor allem auch auf militärischer Ebene ausdrückt. „Krieg“ wird damit zum gleichsam natürlichen Mittel zur (Re-)Justierung der Kräfteverhältnisse. Und „Frieden“ zeigt dementsprechend einen Zustand der Balance an, der freilich prinzipiell zeitlich befristet ist, da die Relationen sich durch unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten ändern können.
Die Realisten unserer Tage, etwa in Gestalt der differenzierter auftretenden „Neorealisten“, kaprizieren sich nicht mehr allzu sehr auf die Annahme einer anthropologischen Konstante. Will es doch kaum noch in unsere Zeit passen, in der alles „gesellschaftlich bedingt“ erscheint, der menschlichen Gattung so etwas wie „böse Gene“ zuzuschreiben.
Nun genügt es manchen von ihnen, mit betonter Nüchternheit zu notieren, dass die Welt aus welchen Gründen auch immer bislang chaotisch gewesen sei und dass man im Sinne einer Trendextrapolation vermuten müsse, sie werde es auch bleiben. Unterstützend wird dann oft noch hinzugefügt, dass wir in Zeiten einer „globalen multikulturellen Explosion“ oder sonst welcher grundstürzenden Kräfteverschiebungen leben, womit nahegelegt wird, dass bis auf weiteres mit einer zunehmend anarchischeren Weltgesellschaft zu rechnen sei, also durchaus auch mit kriegerischen Tendenzen. So erscheint denn der Krieg, jenseits aller genetischen Spekulation, letztlich doch wieder als omnipräsentes Gattungsgeschick.
Aber gehen wir noch einmal auf den Ursprung der These vom Krieg als Menschenschicksal zurück – nämlich das berühmte Diktum des Thomas Hobbes! Dessen übliche Deutung erscheint nämlich mittlerweile in Frage gestellt. Christian Graf von Krockow hat einen genaueren Blick auf die Hobbes’schen Texte geworfen, und – siehe da! – manches spricht dafür, dass die Argumentation des berühmten Engländers letztlich nicht auf die Annahme einer anthropologischen Konstante angewiesen ist. Eher liegt ihr als Bezugsrahmen die Konstruktion eines vorstaatlichen Handlungssystems konkurrierender Individuen zugrunde. Was bedeutet dies?
Nach Hobbes ist prinzipiell nicht auszuschließen, dass – immer wieder einmal – einer unter zahlreichen menschlichen Akteuren gleichsam „aus dem Ruder“ läuft oder den anderen zum Wolf wird. Auch, und gerade, wenn alle übrigen Lämmer wären, kann dies schon genügen, um in der menschlichen Gesellschaft Chaos ausbrechen zu lassen.
Somit muss es Schutzvorkehrungen geben: gemäß Thomas Hobbes in Gestalt eines autoritären Staates, der seine Rechtfertigung daraus zieht, innergesellschaftlich Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. Auch auf die internationalen Beziehungen lässt sich dieses Modell anwenden. Agiert auch nur einer der Staaten als Hecht im Karpfenteich sind Schutzmaßnahmen angezeigt. Ist aber keine höhere Autorität mit glaubwürdiger Wirkungsmacht verfügbar, müssen die einzelnen Staaten sich selbst schützen: und zwar – in der Überzeugung der meisten Realisten – durch Maximierung der jeweiligen militärischen Macht (oder den Anschluss an ein potentes Bündnis).
Die Chance, die in der Erkenntnis liegt, beim internationalen Verkehr gehe es um ein Handlungssystem, das sich nicht notwendigerweise auf die Annahme einer anthropologischen Konstante oder von sonst etwas Schicksalhaftem gründet, wurde im engeren Kreis des politikwissenschaftlichen Realismus bislang nicht genutzt.
Freilich hat es Abweichler gegeben, die begriffen haben, dass die Annahme eines Handlungssystems die Möglichkeit eröffnet, dessen Spielregeln durch menschlichen Einfluss, durch Politik, zu verändern. Um diesen Ansatz, er wurde gegen Ende des Kalten Krieges prominent, nur kurz zu skizzieren: Es gab eine Verschiebung der Begrifflichkeit – von der Sicherung des Einzelstaates durch Rüstung an sich hin zum Konzept einer „Gemeinsamen Sicherheit“, das Staaten unterschiedlicher Interessen einbezieht. Und von der bloßen Maximierung militärischer Stärke, die eigene Sicherheit mit der relativen Schwächung eines Nachbarn erkauft (Sicherheitsdilemma!) hin zu Verteidigungsstrukturen, welche die Bedrohung anderer minimieren.
Doch kommen wir den Anhängern der Idee von der anthropologischen Konstante ein Stück weit entgegen und nehmen ebenfalls an, dass es einen menschlichen Aggressionstrieb gibt! Aber selbst wenn solches zuträfe, heißt das noch lange nicht, dass dieser auch die Staatenwelt regiert. Bisher jedenfalls ist es nicht gelungen, stringent zu argumentieren, dass die Triebstruktur auf der Individualebene sich unmittelbar auch in jenen verfassten Strukturen abbildet, in denen die Menschen zusammenleben.
Im Gegenteil: In der Erklärung von Sevilla (1989) hat ein Kreis von angesehenen, auf Initiative der UNESCO versammelten Psychologen und Sozialpsychologen festgestellt, dass ihren Erkenntnissen nach das Vorkommen von Kriegen aus gesellschaftlichen, also beeinflussbaren Ursachen und nicht aus der Natur des Menschen erklärt werden muss.
Der Hinweis auf Hobbes greift nicht nur deswegen zu kurz, weil er wissenschaftliche Arbeit nicht ersetzen kann, sondern auch, weil die Interpretation der Aussagen des englischen Staatsphilosophen gar nicht so simpel ist, wie oft angenommen wird.
Von der Theorie zur schnöden Wirklichkeit unserer Tage: Wir sehen eine Welt, die in erheblich geringerem Maße von den so genannten „neuen“ Kriegen geplagt erscheint, als es noch vor 20 Jahren imaginiert wurde. Auch das neuartige Phänomen der hybriden Kriege mutet, bei allerdings gewissen Entwicklungschancen, als ein eher begrenztes Phänomen an.
Dies alles fällt in eine Zeit, in der weltweit das Muster autokratischer Machtausübung auf dem Vormarsch ist – die Demokratie sich also in der Defensive befindet. Dies lässt uns stutzen. Hatte nicht Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ mit Plausibilität argumentiert, dass gerade die Ablösung autokratischer Herrschaft durch republikanische Strukturen den Weg zur Abschaffung des Krieges bahne?
Mit „Republik“ war für Kant ein System der Gewaltenteilung und repräsentativer Bürgerbeteiligung bezeichnet – also das, was heute „demokratisch“ genannt wird. Raubkriege passen einfach nicht in ein derartiges System, wohl aber solche der Verteidigung gegen eine Autokratie oder auch Operationen zur Befreiung von illegitimer Herrschaft.
Wenn mit gewissem Vorbehalt angenommen werden darf, dass „Autokratie“ eher mit Krieg korreliert als „Demokratie“, ist die Tatsache gegenwärtig relativ geringer (statistischer) Kriegshäufigkeit erklärungsbedürftig. Müsste nicht mit der Zunahme der Autokratien auch ein Anstieg der Zahl der bewaffneten Konflikte einhergehen? Da dies offenbar nicht der Fall ist, muss vermutet werden, dass es mittlerweile Mechanismen gibt, die den offenen Ausbruch von Feindseligkeiten immer wieder vermeiden helfen. Seien es Vermittlungsaktivitäten oder auch Sanktionen der internationalen Gemeinschaft, sei es ökonomische Verflechtung, welche die Kosten eines Krieges prohibitiv macht.
Im Übrigen: Es sollte nicht übersehen werden, dass der Krieg weiten Teilen der Welt fremd geworden ist. Da ist das Europa der westlichen Bündnisse, und da sind die beiden Amerikas, Australien samt Ozeanien sowie zunehmend größere Regionen Asiens und Afrikas.
Der Beitrag basiert auf einem Buch des Verfassers: Gesichter des Krieges. Schlaglichter und Visionen, Lit-Verlag, Berlin 2019, 128 Seiten, 29,90 Euro.
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