von Klaus Möckel
Ein Scripte-Friedhof, was soll man sich darunter vorstellen? Als ich zum ersten Mal von diesem Projekt hörte, dachte ich an eine Sammlung unveröffentlichter Geschichten, nicht zu Ende geschriebener Texte, Entwürfe, die zu gestalten nie die Zeit gereicht hatte. In der Autobiographie des Schriftstellers Dietmar Beetz – „Kaleidoskop in b“ – glaubte ich Ähnliches angedeutet. Nun, da ich die drei gewichtigen Bände vor mir habe, muss ich mich korrigieren. Ich sehe, dass es Briefe sind, ergänzt durch Passagen, in denen der Autor aufs Korn nimmt, was ihn (und so manchen von uns) empört, dass er sich sarkastische Auseinandersetzungen mit „Mietmäulern“ der Pharmakonzerne und Duckmäusern aller Art liefert, Ärztepfusch, Politikheuchelei und Werbeterror geißelt. Das Ganze wird ergänzt von Wortmeldungen zu Büchern und Literaten, zu Religion und Philosophie, immer wieder unterbrochen von Haiku-Sprüchen (japanische Dreizeiler mit 17 Silben), die Beetz gesellschaftsbezogen pointiert.
Ein ungewöhnliches Werk, bei dem zunächst die gewaltige Organisation imponiert, der Fleiß, die Energie, die dahinterstecken. Die durchdachte Gliederung, das Auffächern nach Zugehörigkeit zum jeweiligen Block, das umfangreiche Personen- und Sachwortverzeichnis im vorangestellten Prospekt fordern in der Tat zum „Reinschauen“ auf. Großes Lob gebührt dabei unbedingt Beetzens beiden „Mitarbeiterinnen“: seiner Frau Karin als Beraterin und seiner Tochter Sabine, die auch für Satz und Layout verantwortlich zeichnet.
Das der Sammlung zugrunde liegende Konzept ist anspruchsvoll und nicht alltäglich. Schon der Stil verlangt Konzentration, erweitert Beetz die Sätze doch oft durch immer neue Einschübe oder Wörter (Wortgebilde), die der Leser nicht unbedingt parat hat. Erstaunlich sein Wissen in vielerlei Hinsicht, gewonnen aus der Praxis zweier Berufe, aus intensivem Studium und vielen (auch mit Gefahren verbundenen) Reisen als Arzt nach Afrika und Indien. Der Thüringer Autor hat Bücher darüber geschrieben, die seinerzeit hohe Auflagen erhielten. All diese Erfahrungen in seine Sammlung einfließen zu lassen und seinen Absichten dienlich zu machen, erforderte eine bemerkenswerte Konsequenz.
Mit seinen Brieffolgen (aus rechtlichen Gründen meist ohne Antworten abgedruckt, doch errät man durchaus deren Sinn) erzählt Beetz zugleich spannende Geschichten, die sich zu einer großen Bestandsaufnahme nach dem „Crash“ der DDR fügen. Für viele seiner schreibenden Kollegen leider keine erfreuliche Bestandsaufnahme. Es ist schon erstaunlich, wie viele Begabungen im Osten stillgelegt, geopfert wurden, wie viel Kultur abgebaut und aufs Niveau der Spaßgesellschaft herabgestuft wurde. Die Korrespondenz zu seiner Edition D.B., um deren Erfolg er sich jahrelang bemühte, ist ein markantes Beispiel dafür. Welche Anstrengungen, welcher Aufwand, welche Kosten auch! Beeindruckend sein Einfühlungsvermögen, wenn es um schwierige Manuskripte und Autoren ging. Das Ergebnis aber: Nichtbeachtung durch die Öffentlichkeit für jegliche Arbeit, die fernab vom Mainstream liegt und nicht sofort Rendite bringt.
Beetz, geboren 1939, der auch nach der Wende zahlreiche Bücher (darunter mehr als 40 Bände Haikus) veröffentlichte, Gedichte übersetzte, afrikanische Märchen herausbrachte, arbeitete bis in die letzten Jahre hinein als Arzt. Das war gewissermaßen sein zweites Standbein, Er besitzt also reiches Wissen auf diesem Gebiet und kann die Mängel im Gesundheitswesen durch praktische Fälle belegen. Trotz nicht zu leugnender medizinischer Fortschritte liegt da manches im Argen und macht den Patienten, neudeutsch mittlerweile als „Kunden“ bezeichnet, das Leben schwer. Ob es um die Organspenden, den Hang zur schnellen Operation, die ständig offerierten IGEL-Leistungen sogar bei Behinderten geht – die Berichte des Autors sind ein entschiedener Appell für die Rechte der Kranken und gegen die überwuchernde Geldgier.
Zu Beginn seines als Vermächtnis gedachten „Scripte-Friedhofs“ beruft sich Beetz mit Zitaten auf Heinar Kipphardt und James Joyce. Letzterer wollte ein Werk schaffen, durch das eine verschwundene Stadt wiedererdacht werden könne, und auch ihm schwebte der gedankliche Aufbau eines Gebildes vor, in das nicht nur die Erfahrungen aus zwei Berufen, sondern auch viele andere Aspekte einbezogen werden: Philosophie, Literatur verschiedenster Art, Religion, Sex, aber ebenso Regionales, Vergangenheits- und Zukunftsaussichten. Nachforschungen über die „Altvorderen“, ganz persönliche Erlebnisse sowie der Briefwechsel mit Gleichgesinnten oder Halb-Gleichgesinnten, machen die Bände selbst im Detail spannend.
Eine wichtige Zugabe sind die Haikus, in denen Beetz eine seinem pointierten Stil gemäße Ausdrucksform gefunden hat. Wenngleich nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, fügen sie sich in das Ganze und vertiefen satirisch-schonungslos die Kritik.
Im Wesentlichen richten sich die Texte des Schriftstellers gegen Medien- und Marktterror, gegen den Ausschließlichkeitsanspruch der westlichen Welt in Bezug auf Wahrheit und Wegbestimmung, gegen die Verunglimpfung des Sozialismus als Unrechts- und Stasi-System, während die Ankläger selbst durch maßloses Profitstreben die Rechte der Dritten oder Vierten Welt auf ein Hunger- und Kriegsdasein reduzieren. Dieses Werk gibt dem Zorn jener Kräfte Stimme, die links denken, aber keine „Linkser“ sein, also nicht mit Halbheiten leben wollen. Das allein wäre Grund genug, über diese reichhaltige Sammlung öffentlich zu diskutieren. Man kann in manchem anderer Meinung sein (zum Niedergang des sozialistischen Lagers, zu den Zukunftsaussichten der Menschheit in Zeiten des Klimawandels), aber gerade bei den neu entstehenden Problemen, deren Gründe auch im Leugnen elementarer Ungleichheiten liegen, sollte eine rigorose Stimme wie die von Dietmar Beetz gehört werden. Gewiss hat man manchmal, vor allem bei den Haikus, den Eindruck, dass der Autor Mühe hat, seine Pferde zu zügeln, dass er vom Leser zu viel Kenntnis der zeitlichen oder regionalen Situation voraussetzt, doch das tut dem Grundanliegen keinen Abbruch. Aufs Ganze und objektiv gesehen, ist Beetz mit dieser Sammlung ein Coup gelungen, der Würdigung verdient und Aufsehen erregen sollte. Es sollten viele Leser „reinschauen“.
Dietmar Beetz: Scripte-Friedhof oder Hospiz Trotz alledem“. edition D.B., Erfurt 2019. Drei Bände, 1300 Seiten, 45 Euro. Erhältlich auch als Kapitel-Separat-Ausgabe, pro Band 9 Euro, oder als USB-Stick, Gesamtpreis 15 Euro (plus Versandkosten). Bezug über: Dietmar Beetz 99097 Erfurt, Silberdistelweg 21, Telefon: 0361 4232 832.
Unser Autor Klaus Möckel (geboren 1934), Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer, schrieb zahlreiche Romane, Erzählungen, satirische Gedichte und Aphorismen. Auch als Nachdichter vor allem moderner französischer Lyrik machte er sich einen Namen. Er lebt in Berlin.
Schlagwörter: Dietmar Beetz, Klaus Möckel, Literatur