von Renate Hoffmann
So nennen ihn stolz die Schweizer. Auch den „Schönsten“ ihrer Bergwelt. Obgleich sie doch eine glanzvolle Kette mächtiger, schneebedeckter Gipfel und Gletscher besitzen. – Der Zug fährt in der sympathischen Stadt Zermatt ein. Plötzlich – deus ex machina – türmt es sich auf. Unnahbar, alles beherrschend. Das Matterhorn (4478 Meter über dem Meeresspiegel) Ich möchte ihm näher sein, um das Gefühl „David-und-Goliath“ etwas zu begrenzen.
Am Morgen liegt Zermatt in dichtem Nebel. Die elektrisch betriebene Zahnradbahn bringt mich zum Gornergrat. Über die hochgeführte 90 Meter lange Findelbachbrücke hinweg und in halsbrecherischen Kurven aufwärts zur Höhe von 3089 Metern. Die Bauzeit dieses technischen Wunderwerkes betrug zwei Jahre (1896–1898). Bedenkt man, dass die Arbeiten nur in den schneefreien Monaten durchgeführt werden konnten, so war es eine Meisterleistung.
Das Nebelmeer bleibt zurück. Himmelblau und strahlende Sonne. Da stehen sie, die Mächtigen, schneebedeckt und vergletschert. Sie umgeben die Majestät wie ein Hofstaat. Neunundzwanzig Viertausender hat man gezählt. Doch das Matterhorn mit seiner markanten Gestalt bleibt unbestritten der Mittelpunkt. Viele Jahre galt es als unbezwingbar – ein Geisterberg, ein Zauberberg. Und deshalb wohl besonders begehrenswert unter den Alpinisten. Von 1857 bis 1865 scheiterten insgesamt 18 Versuche einer Ersteigung.
Auf dem Plateau des Gornergrates herrscht Hochbetrieb. Viel Volk liegt in der warmen Herbstsonne, um noch etwas Gebirgsbräune einzufangen. Die Stühle des großen Restaurants, drin und draußen, sind besetzt; das Hotel belegt, der Souvenirladen eifrig begangen. Japan knipst die Schweizer Berge. Und ein Hund verbellt den Gornergletscher. Das Matterhorn hat sich unterhalb des Gipfels einen weißen Schleier umgelegt. Er verweht nach Süden.
1865 wird doch noch zum Jahr der Erstbesteigung des Unbezwingbaren. Am 13. Juli morgens um halb sechs Uhr bricht eine Seilschaft von acht versierten Bergsteigern in Zermatt auf. Sie wollen es erneut wagen. (Edward Whimper, 1840–1911; Peter Taugwalder sen., 1820–1888; Peter Taugwalder jun., 1843–1923; Michel Croz, 1830–1865; Francis Douglas, 1847–1865; Charles Hudson, 1828–1865; Robert Hadow, 1846–1865) Die Männer erreichen den Fuß des Matterhorns und richten in der Höhe von etwa 3300 Metern ein Zeltbiwak ein. Sie erkunden den unteren Teil des Berges.
Zeitig am 14. Juli beginnt ihr Aufstieg über den Nordostgrat. Der Achte unter ihnen, Joseph Taugwalder, kehrt nach Zermatt zurück. Whimper und Hudson wechseln sich in der Führung ab. Zwei Pausen werden eingelegt. Über die Ostwand ist gutes Vorankommen. Croz übernimmt die Führung. Der letzte technisch schwierige Felsaufbau wird überwunden. Nacheinander betreten die Erstbesteiger den Gipfel. Er ist bezwungen, der Abweisende. Aber um welchen Preis!
Nach einer längeren Pause folgt der Abstieg. Die Männer hinterlegen eine Flasche mit ihren Namen. An einer komplizierten Stelle, die wenig Halt bietet, rutscht Hadow aus und zieht Croz, Hudson und Douglas mit sich. Das Seil reißt zwischen Taugwald sen. und Hudson. … Die beiden Taugwalds und Whimper stehen unter Schock. Langsam steigen sie ab. – Die Nachricht der Erstbesteigung mit dem tragischen Ausgang lief damals um die Welt. – Drei Tote werden auf dem Matterhorngletscher geborgen. Douglas‘ Leichnam ist nie gefunden worden
Heute sind sie alle durchstiegen, die vier Wände des Matterhorns. Im Sommer, wie auch zum Teil im Winter. Ebenso die Grate.
Und wo bleiben die Frauen? Sie sind doch nicht minder mutig und sportlich als die Männer! Auf dem Gornergrat-Plateau wirbt ein Plakat für eine kleine Ausstellung: „Matterhorn Ladies“. Interessiert und neugierig trete ich ein. In Vitrinen liegen Lebensgeschichten, Briefe, Fotos, sensationelle Zeitungsberichte und als Schauobjekte Hanfseil und Eispickel. Dazu die Ausstattung bergsteigender Frauen aus vergangenen Tagen: Nagelschuhe und lange Röcke (sehr apart, aber unpraktisch).
Der lange Rock war es auch, der die achtzehnjährige Italienerin Felicité Carrel im Jahr 1867daran hinderte, die erste Frau auf dem Gipfel zu sein. Sie war mit einer Gruppe auf dem Liongrat bis zur Höhe von 4380 Meter aufgestiegen. Aber der Wind fuhr in ihre Röcke und blies sie in den Abgrund. Der erzwungene Umkehrpunkt trägt jetzt ihren Namen: „Col Felicité“.
Den Gipfel zu erreichen, gelang der Engländerin Lucy Walker am 22. Juli 1871. Der Weg bis zu diesem Tag scheint so schwierig gewesen zu ein, wie ihre Erstbesteigung des Matterhorns. Sie kämpfte gegen die Vorbehalte der Eltern, die Standesgesetze und die gesellschaftlichen Zwänge.
Eine extravagante und nicht ungefährliche Ersteigung unternimmt ein jung verheiratetes Paar. Die Engländerin Maud Walthers (nach dem Foto eine bildschöne, gertenschlanke Frau) und der Deutsche Theodor Wundt. Das Matterhorn sollte im Juli 1894 Ziel ihrer Hochzeitsreise werden. Ihr Vorhaben beginnen sie mit einer Seilschaft am Liongrat. Dort wird abgekocht. Maud zu Theodor: „Hier ist das Kochen ganz nett, aber das sage ich dir im voraus, zu Hause siehst du mich nicht in der Küche.“ Theodor zu Maud: „Soooo?“ In ihren Erinnerungen an Zermatt schreibt Maud Wundt-Walthers: „Der Tag kam, wo ich wirklich dort oben stand – auf der Hochzeitsreise. Nicht etwa, daß ich meinen Mann deshalb geheiratete hätte …“ Auf dem Gipfel ereilt die Partie ein schweres Unwetter mit Hagel, Sturm und Schnee. Mit Mühe wird die alte Hörnlihütte zum Übernachten erreicht.
Die Französin Alice Damesme und Miriam O’Brien Underhill, die US-Amerikanerin, beide bekannte Alpinistinnen, unternehmen 1932 die erste reine Frauenbesteigung. Miriams Begründung: „Bergsteigen ohne Führer besteht grundsätzlich in der Übernahme der ganzen Verantwortung für die Tour, von der Planung bis zur Durchführung. Genau das macht Spaß, und ich sah keinen Grund darin, daß dieses Vergnügen den Frauen vorenthalten sein sollte.“
Inzwischen tragen die Bergsteigerinnen keine langen Röcke mehr, sondern bewegen sich frei in Kniehosen und gemusterten Strümpfen. Praktisch und schick obendrein.
100 Jahre nach der Erstbesteigung, auf den Tag genau, am 14. Juli 1965, bezwingt Yvette Vaucher aus Genf, gemeinsam mit ihrem Mann und einem Zermatter Bergführer, die schwierige Matterhorn-Nordwand. Ihre Gedanken und Empfindungen auf dem Gipfel: „Ich wein‘ und bin glücklich […] Und ich wußte nicht, daß das Leben so schön sein kann.“ Bevor Yvette „in die Wand ging“, hatte man sie gefragt, was sie sich wünsche, wenn die Tour gelungen sei. Sie antwortete: „Zum Friseur gehen und grünen Salat essen.“ Nach der erfolgreichen Rückkehr erfüllte man ihr beides (ein Gutschein vom Friseur und „une grande salade verte“ vom Wirt).
Im Sommer 1967 gelingt es auch zwei Japanerinnen, die Nordwand zu durchsteigen. Michiko Imai, die Ärztin aus Tokio, und Yoshiko Wakayama. Letztere verliert mit ihrem Ehemann 1973 am Liongrat das Leben.
Alle die Vorgenannten bleiben nicht die einzigen Frauen, die Mut und den unstillbaren Drang besaßen, das Kräftemessen mit dem königlichen Berg aufzunehmen. Respekt, Respekt.
Wieder im Freien und in Ansicht des „Schönsten“ der Schweizer Alpen, wird man klein und unbedeutend. Ich bestaune die Gewalt und Gestalt und die Übermacht des Riesen und versöhne mich mit der Rolle des David.
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