22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Stippvisite in Krakau – Teil 2

von Hannes Herbst

Krakau war seit 1038 die Hauptstadt Polens. Bis 1596. Da herrschte über das Land, weil dessen vorangegangener einheimischer König ohne männlichen Nachkommen verstorben war, mit Sigismund III. Wasa ein Vertreter des schwedischen Königshauses. Dem war es von Krakau bis nach Hause jenseits der Ostsee eh zu weit, zumal er seit 1592 auch Erbkönig von Schweden war, so dass ihm ein schwerer Brand im Krakauer Königsschloss auf dem Wawel den wohlfeilen Vorwand lieferte, die polnische Hauptstadt auf Dauer nach Warschau zu verlegen.
Die Krakauer kauen daran bis heute und reklamieren für sich, dass ihre Stadt nach wie vor die heimliche Kapitale des Landes sei. Schließlich seien auch nach 1596 sämtliche polnischen Könige weiterhin in der Wawel-Kathedrale (der Königlichen Basilika und Erzkathedrale der Heiligen Stanislaus und Wenzeslaus) gekrönt worden, hätten dort ihre Ehen geschlossen und seien bis auf drei Ausnahmen auch dort bestattet.
Dieser Lokalpatriotismus ist im Hinblick auf die jüngere Vergangenheit nicht frei von makaberen Zügen. So erklärte uns unsere Stadtführerin allen Ernstes, dass es doch keine Kunst gewesen sei, das völlig zerstörte Warschau – und Breslau sowie Danzig nannte sie im selben Atemzuge gleich mit – in historischer Gestalt wiedererstehen zu lassen. Dort sei ja im Übrigen auch gar nichts mehr echt. Die eigentliche Leistung bestehe darin, dass nicht zerstörte Alte über die Zeit zu bewahren – wie eben in Krakau.
Da wird der dezente Hinweis, dass ohne Wasa-König und Wawel-Brand womöglich Krakau zur Zeit der verbrecherischen deutschen Besatzung das mörderische Schicksal der polnischen Hauptstadt erlitten hätte, überhört und stattdessen die tief sitzende Animosität gegenüber der anderen Weichsel-Metropole noch durch einen Witz unterstrichen: Worin denn der Unterschied zwischen den Myriaden von Tauben auf dem Marcus-Platz in Venedig und den vergleichbar zahlreichen auf dem Rynek Główny in Krakau bestände? Die in Krakau würden sich um die Tuchhallen nur versammeln, um gemeinsam nach Warschau zu fliegen und die Stadt ordentlich voll zu… (Der Gebrauch des betreffenden Verbs verbietet sich diesem Magazin.)

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Nach der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 war der polnische Staat für über 120 Jahre von der Landkarte Europas getilgt. Russland, Preußen und Österreich hatten das Territorium vollständig untereinander aufgeteilt. Krakau fiel an die Habsburger.
Die hatten zum Beispiel keine Verwendung für das Königsschloss auf dem Wawel und profanisierten dasselbe zur Kaserne. Allein die bautechnischen Eingriffe waren derart rigoros, dass die Restauration bis zum heutigen Tage nicht abgeschlossen ist. Doch bereits in den 1930er Jahren waren besonders repräsentative Räumlichkeiten soweit wiederhergestellt, dass Hitlers Paladin, der so genannte Generalgouverneur Hans Frank, dort königsgleich residieren konnte.
Die Habsburger verpassten ihrer Kaserne überdies eine das ganze Areal umfassende, architektonisch völlig unpassende Einfriedungsmauer, über die die Krakauer heute noch die Nase rümpfen. Aber wenigstens, so konzedieren sie, wäre das Gelände dadurch absperrbar. Anderenfalls würden die Touristen wohl auch noch nachts in den Fenstern des Schlosses hängen.
Dass Fremdherrschaft bisweilen Dinge hervorbringen kann, auf die spätere Generationen bei allem Rochus auf die Unterdrücker dann doch nicht verzichten wollen, dafür ist der die gesamte historische Altstadt umgebende Grüngürtel Planty, der bereits im vorhergehenden Beitrag Erwähnung fand, ein gutes Beispiel.
Die Habsburger hatten nämlich befunden, dass der einst zum Schutz vor Feinden angelegte, mittlerweile zur stinkenden Kloake und städtischen Müllkippe verkommene Wassergraben um die Stadtmauer zu verschwinden habe. Und letztere mangels Funktion gleich mit. Immobilienhaie, die auf die Freiflächen sofort massig Shopping-Malls und Bürotürme hingeklotzt hätten, waren seinerzeit noch nicht erfunden. So entstand eine vier Kilometer lange, 20 Hektar umfassende Grünanlage, deren üppiger Laubbaumbestand in den heutigen heißen Sommern Schatten und Kühle spendet.
Eines der früher sieben Krakauer Stadttore ist allerdings vom Rückbau-Furor der Habsburger verschont geblieben – das nördlichste, das Florianstor.
Sankt Florian, der Namensgeber, ist nämlich nicht nur der Schutzpatron der Feuerwehrleute, sondern auch der der Weichselmetropole. Floriansreliquien ruhen im Wawel-Dom. Als der damalige Papst im Jahre 1183 mit Abgesandten Krakaus, die ihm Reliquien abbaten, um die Stadt politisch aufzuwerten, die vatikanischen Bestände an derlei Memorabilia inspizierte und laut in den Raum fragte, wer von den Heiligen denn nach Krakau wolle, soll Sankt Florian den Arm gehoben haben.
Auch das dem Florianstor vorgelagerte Verteidigungsrondell, ein so genannter Barbakan, ist erhalten. Zu verdanken hat die Stadt den Nichtabriss beider Bauwerke einem Universitätsprofessor – Krakau beherbergt die zweitälteste Alma Mater Mitteleuropas –, der seinerzeit (schelmisch?) argumentierte, dass die scharfen Winde aus dem Norden, sollten Barbakan und Florianstor ebenfalls abgerissen werden, den Krakauer Marktplatz erreichen und den Frauen unmoralisch die Röcke hochheben würden. Die Zeiten waren gottseidank noch prüde genug, um dem Argument Gehör zu schenken.

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Am späteren Nachmittag und schon gar am Abend erwacht der Stadtteil Kazimierz zu quirligem Leben. Bis 1800 war K. ein eigenständiger Ort außerhalb Krakaus. Das Stadtrecht geht bereits auf das Jahr 1335 zurück. Namenspatron ist Kazimierz III., der als einziger unter den polnischen Königen den Beinamen der Große erhielt.
1494 ließ König Jan I. Olbracht die jüdische Bevölkerung Krakaus dorthin umsiedeln. Nicht um sie zu ghettoisieren, sondern um sie vor der allzeit latenten und immer wieder sich auch offen bahnbrechenden antisemitischen Progrombereitschaft ihrer polnischen Mitbürger zu schützen. Solch expliziter Schutz war etlichen mittelalterlichen polnischen Königen angelegen, wie im POLIN, dem höchst sehenswerten Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau, dokumentiert ist. Die Herrscher, die sich zum Teil Jüdinnen als Geliebte nahmen, wussten insbesondere, was sie an der verlässlichen Kreditierung ihrer Staatsgeschäfte durch jüdische Bankiers hatten. Und etwa Kazimierz’ III. einzige Nachkommen entstammten der langjährigen Liaison mit der Jüdin Esther. Seine drei Ehen waren kinderlos geblieben, so dass mit ihm das Königsgeschlecht der Piasten ausstarb.
Das jüdische Viertel in Kazimierz bestand über Jahrhunderte. Doch wenige Jahre deutscher Gründlichkeit haben auch hier dafür gesorgt, diese jüdische Tradition unwiederbringlich zu zerstören. Und die Restitutionsabstinenz der polnischen Bevölkerung gegenüber den wenigen jüdischen Rückkehrern nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der auch dann noch tätliche Antisemitismus von Teilen der polnischen Bevölkerung und später mehrere antisemitische Kampagnen der PVAP taten ein Übriges. (Krakau ist im POLIN als eine von acht Städten des Landes ausgewiesen, in denen es nach Ende des Zweiten Weltkrieges erneut zu Pogromen mit jüdischen Todesopfern kam.)
Nachdem Kazimierz üble Jahrzehnte der Vernachlässigung, Kriminalisierung und des Verfalls hinter sich hatte, setzte vor einigen Jahren eine Renaissance ein, an der insbesondere junge Menschen, Künstler und anderweitig Engagierte Anteil haben. Längst noch nicht so herausgeputzt wie die Krakauer Altstadt und vielleicht gerade deshalb entfalten heute Straßencafés, Boutiquen, Restaurants und belebte Hinterhöfe ihr ganz eigenes Flair.
Nicht zuletzt kann man in Kazimierz auch die nationale polnische Fastfood-Kultschnitte Zapiekanka – ein Art halbiertes heißes Baguette von bis zu knapp einem halben Meter Länge und mit vielerlei möglichen Belägen – probieren. Von diesem Kulinarikum behauptet Matthias Kneip in seinem Kompendium „111 Gründe, Polen zu lieben“ ja, es schmecke grundsätzlich besser als Döner. Doch auch an dieser Stelle hält Kneips Opus Magnum dem Praxistest nur bedingt stand. Oder diplomatischer gesagt: Den Vergleich mit einem nicht allzu sehr hingeschluderten Döner muss die Zapiekanka tatsächlich nicht scheuen.

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Eine der ältesten Traditionen Krakaus ist das Trompetensignal zu jeder vollen Stunde vom höheren der beiden Türme der Marienkirche. Vierundzwanzig Mal täglich, und jeweils in alle vier Himmelsrichtungen, wird eine Melodie intoniert, die immer an derselben Stelle abrupt abbricht. Worauf der Trompeter stets aus Neue aus dem Turmfenster winkt.
Die Bewandtnis ist folgende: Im Jahr 1241 näherten sich berittene Mongolen, damals Tataren geheißen, Krakau. Ein Wächter bemerkte das und schlug mittels Trompetensignal Alarm. Doch er konnte nicht zu Ende blasen, denn ein Pfeil der Angreifer durchbohrte ihm den Hals …
Sollte der wachsam-tapfere Mann allerdings schon damals jene Melodei intoniert haben, die heutzutage vom Turm erklingt, dann steht zu befürchten, dass die Mehrheit der Krakauer damals in ihren Betten gemeuchelt worden ist. Denn was da ertönt, ist mitnichten ein aufrüttelndes Alarmsignal angesichts einer nahenden tödlichen Gefahr, sondern ein – wirklich schönes, aber eben eher einlullendes – Schlaflied.