22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

Stippvisite in Krakau

von Hannes Herbst

Das erste Mal besuchte ich Polens heimliche Hauptstadt im Rahmen einer Klassenfahrt als Oberschüler im Jahre 1970. Als wir uns an einem jener Tage nach morgendlichem Verlassen der Jugendherberge zum Rynek Główny (Hauptmarkt) mit der wuchtigen Marienkirche und den berühmten, wenn auch damals schon mit Tinnef für Touristen überfrachteten Tuchhallen aufgemacht hatten, war in der Altstadt kein Durchkommen – Menschen über Menschen über Menschen. Sie waren, wie wir erfuhren, aus dem ganzen Lande zusammengekommen, um eines der damals von der PVAP, Polens herrschender kommunistischer Partei, nur selten gestatteten öffentlichen Auftritte von Kardinal Stefan Wyszyński, dem Primas von Polen, teilhaftig zu werden.
Für mich als atheistisch aufgewachsenen Jugendlichen – ein Kulturschock: eine solch überwältigende Huldigung an ein Phänomen, das mir bis dato im Wesentlichen unter der Kurzformel „Opium für das Volk“ begegnet war. Und das in einem sozialistischen Bruderland! Von dem mir damals ebenfalls völlig unbekannten Hintergrund ganz abgesehen, dass sich öffentlich mit der katholischen Kirche zu identifizieren seinerzeit zugleich Ausdruck einer in der polnischen Bevölkerung weit verbreiteten Ablehnung der PVAP-Herrschaft war.
Beim jetzigen Besuch in Krakau richtete es erneut der Zufall, doch dieses Mal ohne Überraschung. Unsere Stadtführerin informierte, dass am nächsten Tag, am Donnerstag, dem 20. Juni, ein Feiertag zu gewärtigen sei und mit Fronleichnam zugleich einer der wichtigsten katholischen. Mit großer Prozession vom Wawel, dem Krakauer Königsschloss, zum Hauptmarkt. Schon beim Schloss wie auch an Stationen unterwegs und schließlich vor der Marienkirche würden Gebete gesprochen und Messen gelesen.
So konnten wir rechtzeitig einen geeigneten Platz einnehmen. Die Prozession wurde angeführt von Nonnen und Mönchen unterschiedlicher Orden sowie von diversen Trachtengruppen. Dem Krakauer Erzbischof Marek Jędraszewski am Ende des offiziellen Zuges schließlich folgten Tausende Gläubige aller Altersgruppen.
Zugleich war die Prozession erkennbar Ausdruck einer nicht nur dem polnischen Katholizismus eigenen, aber bei diesem besonders augenfällig ausgeprägten Eigentümlichkeit – der prioritären Marienverehrung. Bei der spielt – salopp gesprochen – der eigentliche Gottessohn ganz klar nur die zweite Geige. Zwar lautet die offizielle Bezeichnung des Fronleichnamsfestes Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi (Fest des heiligsten Leibes und Blutes Christi), doch die einzige in der Prozession mitgeführte lebensgroße Statue war – eine Marienfigur.
Insgesamt hielt sich das Geschehen im Vergleich zur drangvollen Enge von 1971 aber in durchaus überschaubarem Rahmen. Auch eine gewisse Säkularisierung, um nicht zu sagen Profanisierung war im Stadtbild unübersehbar – Souvenir- und Eisläden, Cafés und Restaurants sowie Spätverkaufsstellen (häufig 24/7 und das auch bei solchen mit der Genrebezeichnung „Alkohole“) entlang der Prozessionsstrecke wie auch um den Hauptmarkt waren geöffnet und wurden frequentiert. Selbst die zahllosen individuellen Anbieter von Stadtführungen in diversen Sprachen in den Straßen um den Hauptmarkt gingen ihrer Profession nach. Nur für die schmucken weißen zweispännigen, üblicherweise an den Tuchhallen zur Aufnahme von Touristen aufgereihten Droschken mit ihren ausnehmend attraktiven Kutscherinnen war an diesem Morgen kein Platz.

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Apropos Marienverehrung: Um deren ausdrücklichere kirchliche Anerkennung hatte Primas Wyszyński auf dem II. Vatikanischen Konzil Anfang der 1960er Jahre vergeblich gefochten. Diese fehlende Anerkennung hatte jedoch die katholische Krakauer Bürgerschaft schon knapp 500 Jahre zuvor nicht daran gehindert, für ihre Marienkirche jenen gewaltigen Marien-Altar (den mit elf mal dreizehn Metern größten spätgotischen Europas) bei dem Nürnberger Holzbildhauer Veit Stoß in Auftrag zu geben, der heute jährlich zigtausende Besucher anzieht.
Zwar wird der Altar bis 2021 etappenweise restauriert, aber ein Besuch in der auch sonst imposanten Kirche lohnt allemal. Zumal die zentrale Altar-Gruppe mit der hinscheidenden Maria bereits wieder in neuer Pracht zu sehen ist. Überdies vermitteln Videoeinspielungen interessante Einblicke in die Arbeit der Restauratoren.
Wie viele andere Krakauer Kunstwerke – Nazi-Statthalter Hans Frank etwa, in Nürnberg 1946 als einer der Hauptkriegsverbrecher gehenkt, verschleppte bei seiner Flucht heim ins Reich ganz privat unter anderem da Vincis „Dame mit dem Hermelin“ – wurde während der deutschen Okkupation auch der Veit-Stoß-Altar geraubt. Für das geplante „Führermuseum“ in Linz. Verbracht wurde das Kunstwerk ausgerechnet nach Nürnberg, wohin der Schöpfer seinerzeit nach Abschluss seiner Arbeit zurückgekehrt war. Dort überdauerte der Altar im Kunstbunker unter der Burg. Nach seiner Rückgabe an Polen degradierten ihn die Behörden des Landes zunächst zum reinen Kunstwerk und ließen ihn im Wawel ausstellen. Doch seit 1957 ist er wieder Hochaltar am angestammten Platze.

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Mit Beginn der deutschen Okkupation im Herbst 1939 wurde Krakau Hauptstadt des so genannten Generalgouvernements, jener polnischen (und ukrainischen) Gebiete, die nicht direkt dem Deutschen Reich einverleibt wurden. Zum erklärten deutschen Ziel einer dauerhaften Versklavung und Dezimierung der polnischen Nation gehörte neben der physischen Vernichtung der geistigen, politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes, die sofort nach der polnischen Niederlage einsetzte, auch die Tilgung von Zeugnissen der polnischen Geschichte, darunter von Denkmälern. Dieser Barbarei fiel in Krakau auch das bronzene Reiterstandbild König Władysław II. Jagiełło, des Siegers der Schlacht bei Grunwald von 1410 gegen den Deutschen Ritterorden, zum Opfer.
Erst zu Beginn der 1970er Jahre entschloss sich die PVAP-Führung zur Wiederherstellung des Denkmals auf dem Jan-Matejko-Platz vis-à-vis dem Brabakan. (Dieses Ende des 15. Jahrhunderts errichtete, der von einem seinerzeit bis zu sieben Meter tiefen Wassergraben umspülten Stadtmauer im Bereich des nördlichen Stadttores vorgelagerte Verteidigungswerk sollte Feinden ein rasches Eindringen verwehren.)
Als das wiedererschaffene Standbild schließlich per Hubschrauber auf seinem Sockel abgesetzt werden sollte, stellte sich heraus, dass die Halterungsbolzen auf demselben nicht an den richtigen Stellen saßen. Der Helikopter musste abdrehen. Im Volksmund wurde kolportiert, Jagiełło selbst habe den Piloten zur Umkehr aufgefordert: „Die da unten fressen mir doch nur das Pferd weg.“ Es war dies eine Zeit ernster Versorgungsengpässe bei Fleisch und vielen anderen Lebensmitteln in Polen.

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Apropos Jan Matejko: Die Absicht, im örtlichen Nationalmuseum unbedingt die „Dame mit dem Hermelin“ besichtigen zu wollen, kann in Krakau durchaus auf Unverständnis stoßen. Dieses kleinformatige Bild? Mit nur einer Frau und einem Tier? Kein Vergleich mit den Werken Matejkos! Da seien zum Teil hunderte Figuren zu sehen.
Matejko ist in Polen sehr verehrt, hat er doch auf zahlreichen Monumentalgemälden Sujets auf die Leinwand gebracht, an denen sich der polnische Nationalstolz von jeher besonders aufrichten kann – darunter natürlich die Schlacht bei Grunwald. Auch deutsche Freunde von Völkerschlachtdenkmal und Kyffhäuser-Monument dürften daran Gefallen finden.
Sehr schön ist das Matejko-Denkmal auf dem Planty, einem die Krakauer Altstadt fast komplett umgebenden Parkgürtel zum Flanieren, Auf-Bänken-Verweilen, zum Die-Seele-baumeln-Lassen.
Das Matejko-Denkmal befindet sich unmittelbar neben dem Barbakan. Da sitzt der Künstler in Lebensgröße und ganz leger in der linken unteren Ecke eines ansonsten leeren Bilderrahmens und gibt so ein Beispiel dafür, dass die Wirkung von Kunst auf den Betrachter mit den Umständen durchaus wechselt. Jetzt im Sommer wird der Bildhintergrund vom üppigen Grün des Planty geprägt. Im Herbst werden sich die Blätter von deren Laubbäumen bunt einfärben, bis der Winter die Regie übernimmt. Der Frühling schließlich wird den Reigen neu eröffnen.
Unter Matjekos Schülern war einer, auf den der Meister besonders große Stücke hielt – Stanisław Wyspiański. Der schlug aber künstlerisch einen gänzlich anderen Weg ein, nämlich in Richtung Moderne. Auf sehr beeindruckende Art und Weise davon überzeugen kann man sich in der Krakauer Franziskanerbasilika, einer der ältesten gotischen Kirchen der Stadt. Deren Interieur hat Wyspiański mit Jugendstil-Ornamenten neu gestaltet. Sein Meisterwerk in diesem Sakralraum ist jedoch sein „Gott Vater – Werde!“ betiteltes, von changierenden Blautönen beherrschtes, höchst dynamisches Farbglasfenster über dem Haupteingang. Dafür wurde Wyspiański auf der Weltausstellung 1905 in Paris mit einer Goldmedaille bedacht.

Wird fortgesetzt.