22. Jahrgang | Nummer 20 | 30. September 2019

Menzels malerische Welt auf Papier

von Klaus Hammer

Theodor Fontane zählte 1885 in einem Huldigungsgedicht zum 70. Geburtstag Adolph Menzels nicht ohne Ironie auf, was dieser malte: „Menzel ist viele Dinge: Straußenfedern, Hofbälle, Hummernmayonnaise, der Kaiser, Moltke, die Gräfin Hacke, Bismarck…“ Die „kleine Exzellenz“, wie der berühmte kurzwüchsige Maler genannt wurde, hat in seinem 90jährigen Leben mit einer fast obsessiven Besessenheit alles gezeichnet und gemalt, was dem 19. Jahrhundert Ausdruck verlieh: Alltagsszenen und Krönungszeremonien, Hinterhäuser und Ballsäle, Bauplätze und Schlafzimmer, Rüstungen und Leichen, Könige, Adlige, Bauern und Proletarier, Militärs und Karrengäule, Wolkenhimmel und Fabrikhallen, Gewand- und Handstudien, einen prächtigen Ara ebenso wie eine Ratte im Rinnstein. Für die einen war er der kaisertreue Hofmaler, der Preußens Glanz und Gloria huldigte, für die anderen der Künstler der Industriearbeiter, aber ebenso hat er das Leben des Bürgertums eingefangen, war er mit gleicher Berechtigung der Tierzeichner, der Landschafter oder der Militärmaler. Er bevorzugte gleichermaßen das Fragmentarische und Unzusammenhängende wie das aberwitzige Gedränge von Figuren und Geschichten. Weder gehörte er einer Schule an noch hinterließ er eine; er brach der Moderne Bahn, ohne dass diese es ihm zu lohnen wusste.
Das Berliner Kupferstichkabinett besitzt mit 6000 Zeichnungen die weltweit bedeutendste Sammlung seiner Arbeiten auf Papier. Und mit 100 Werken wird jetzt Menzels, des „Malers auf Papier“, gedacht. Es geht also nicht um die großen repräsentativen Werke, sondern dem Künstler soll sozusagen „über die Schulter“ geschaut, dem Besucher das Werden und Wachsen seiner Aquarelle, Pastelle, Gouachen und Mischtechniken vermittelt werden. Welche Technik hat Menzel für welche Themen und Motive, auch für welche Wirkungen gewählt? Die Aquarellmalerei und die lavierende Malweise hat er besonders für „alles, was da mit Luft zusammenhängt“, bevorzugt, wie er 1848 in einem Brief formulierte. Dazu zählen Wolkenstudien und Impressionen von Licht, Luft, Rauch, Hitze und Kälte. Dagegen skizzierte er mit dem Pastell, der sogenannten trockenen Malerei, in der sich die Möglichkeiten des Zeichnens mit denen der Malerei mischen, Experimentelles und Fragmentarisches, ohne das Bild gänzlich auszufüllen. Aber er bringt in dieser Technik auch durchkomponierte Blätter zu Papier, die bereits einen sehr bildmäßigen Eindruck vermitteln. Seit den 1860er Jahren, nach Abschluss des „Krönungsbildes“ („Krönung Wilhelms I. zu Königsberg“, 1861), des größten und figurenreichsten seiner Ölgemälde, dominieren bei Menzel deckende Malereien in Gouache und Mischtechnik. Zeitgenössisches und Historisches, oft bis zum Blattrand ausgeführt, sind die Themen solcher Bilderfindungen im Kleinen.
Menzels Künstlertum und Lebenswelt, sein „unerbittlich wahrhaftiges“ Einfangen des Alltags, seine Reisen in den Süden, sein Beobachten des profanen wie sakralen Welttheaters und seine Porträts werden in einzelnen Kapiteln vorgeführt. Der scheinbar doch so bekannte Menzel weist sich hier als ein weithin unbekannter aus. Die Fülle kleinformatiger Arbeiten, von Fragmenten, Skizzen, Zeichnungen und Studien bis zu ausgereiften Werken zeugt ebenso von seinem ungezügelten optischen Hunger nach Realität wie von der Vielfalt der Blicke und Stile, dem Miteinander von Formprägnanz und malerischer Freiheit.
Von den spontan eine Situation einfangenden Skizzen, in denen Menzels Schwarzweißkunst geradezu „farbig“ wird und ein sich anbahnendes impressionistisches Sehen verrät, über die Gouachen der 1850er Jahre, mit denen er luftige Töne erzielt und Wirkungen ähnlich der Pastellmalerei, bis zu den Blättern mit Köpfen und Gesichtern, in denen sich ergreifende Schicksale spiegeln, eröffnet sich dem Betrachter ein panoramatischer Blick auf das Disparate einer Epoche.
Menzel, das malerische Genie, hat die Stadt Berlin vom Blick aus dem Wohnungsfenster gemalt, von seinem Balkon sind auch viele Wolkenstudien entstanden. Er malte nicht die Prachtboulevards oder markanten Gebäude Berlins, er bevorzugte die Randgebiete, in denen sich das bebaute Berlin mit der noch unberührten Landschaft begegnete. Er traf ebenso romantische Mondnacht-Stimmungen, die Poesie des Alltäglichen wie die unbestechliche, authentische Wirklichkeit. Ihm gelangen überraschende Lichteffekte, atmosphärische Dichte und erlesene Farben – und doch bleiben die Dinge im Bild fest und bestimmt, behalten sie ihr zeichnerisches Gerüst.
Gewagte und ungewohnte Ansichten vermitteln seine Selbstporträts: Menzels Kopf in Aufsicht, in extremer Untersicht auf das Gesicht (vor 1854), als tanzender Maler mit einem Dutzend Pinseln in Mund und Händen und von Farbflecken umschwirrt (um 1861) oder das angeschnittene Gesicht (1876/77) von unbestechlicher Wahrhaftigkeit. Auch der Blick auf den eigenen Körper, auf Hände und Füße sind als „Selbstporträts“ eigener Art zu verstehen.
Als erster deutscher Maler fing Menzel die Welt der Eisenbahn ein und brachte blitzschnell das Verhalten der sich unbeobachtet glaubenden Fahrgäste aufs Papier. Während der gähnende „Herr im Coupé“ schon nach dem Krieg in die Obhut des Museums zurückgekehrt war, blieb das Schicksal seiner Reisegefährtin, der gelangweilt aus dem Fenster schauenden „Dame im Coupé“ lange im Dunkeln. Jetzt ist das Bilderpaar, 1859 in der Technik Pastell aufs Papier gebracht, wieder vereint. Für sein berühmtes „Eisenwalzwerk“ (1875) hat Menzel intensive Studien im schlesischen Königshütte betrieben, die Maschinen und arbeitenden Menschen skizziert, sich jeden Bewegungsvorgang eingeprägt. Die Begrüßungszeremonie der vornehmen Gesellschaft ist eine schneidende Satire auf den im Vordergrund schuftenden Heizer in „Besuch im Eisenwalzwerk“ (1900). Viele akribisch ausgeführte Porträtstudien hat Menzel dann nur noch versatzstückhaft ins große Tafelbild übertragen müssen. Es gibt in Menzels vielgestaltigem Werk keine Hierarchisierung des Bildaufbaus, er hatte zu allem die gleiche distanzierte Nähe.
Neu angekauft wurde das Pastell der „Schlittschuhläufer“ (1855/56). Im Nebel eines Schneetages scheint – vermutlich im Berliner Tiergarten – eine Dreiergruppe mit einer eleganten Frau in der Mitte aus dem Bild heraus auf den Betrachter zuzulaufen, während rechts der Versuch, Figuren zu drehen, bereits zu einem Sturz geführt hat und ein zweiter bevorsteht. Die untere Bildhälfte ist ganz dem hektischen Geschehen gewidmet, die obere allein der winterlichen Atmosphäre – so suchte Menzel das hier ersichtliche Bildchaos mit ziemlich rigiden Ordnungsprinzipien zu beherrschen.
Diese Ausstellung, die das Prinzip der Inszenierung und der thematischen Abfolge wirkungsvoll in Beziehung setzt, vermag trotz des Fehlens der großen Tafelbilder vor Augen zu führen, wie Menzel die Möglichkeiten der Kunst des 19. Jahrhunderts bis an ihre Grenzen „ausgereizt“ und zugleich Ausdrucksformen der Zukunft entwickelt hat.

Menzel. Maler auf Papier, Staatliche Museen zu Berlin. Kupferstichkabinett, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr; bis 19. Januar 2020, Katalog 29,95 Euro.