22. Jahrgang | Nummer 19 | 16. September 2019

BEGINNENDES LIED

von Henry-Martin Klemt

… denn meine Liebe allein ist kein Beweis.
Volker Braun

Wo andre Häuser bauten, hab ich mich gesehnt
als dunkler Vogel über ihre Stadt zu fliegen,
und wo die Jäger standen, an den Baum gelehnt,
wollt ich als wildes Tier mich an den Boden schmiegen.

Nie ist ein Mensch so einsam, wie im Menschenmeer.
Das Laute macht ihn langsam taub, das Bunte blind.
Doch ich kam eines schönen Tages zu dir her,
wo einer endlich mit dem andern Land gewinnt.

Bis auf den Grund bin ich getaucht und weit gereist
und manchmal heulte ich, als wäre ich von Sinnen.
Doch wenn es stimmt, daß meine Liebe nichts beweist,
dann werde ich noch einmal ganz von vorn beginnen.

Schon bleibt ein Jetzt mir nur noch und kein Irgendwann
und darum will ich jetzt mit dir und unsern Kindern
dem Schönen beistehn und dem Schwachen, denn ich kann
nicht Hass noch Gier, kaum einmal bittre Not verhindern.

Bis auf den Grund bin ich getaucht und weit gereist
und manchmal heulte ich, als wäre ich von Sinnen.
Doch wenn es stimmt, daß meine Liebe nichts beweist,
dann werde ich noch einmal ganz von vorn beginnen.

Kein dunkler Vogel bin ich und kein wildes Tier
und meine Freiheit passt nicht zwischen Häuserwände.
Ich will nicht schießen und nicht stehen im Spalier.
Doch was mein Kopf gesucht hat, finden meine Hände.

Vergessen wird mein Name sein und auch mein Lied,
das andre wärmte, wird gelöscht sein vor dem Morgen.
Die Welt wird anders sein. Das ist der Unterschied:
Für kurze Frist war ich als Mensch in ihr geborgen.

Bis auf den Grund bin ich getaucht und weit gereist
und manchmal heulte ich, als wäre ich von Sinnen.
Doch wenn es stimmt, daß meine Liebe nichts beweist,
dann werde ich noch einmal ganz von vorn beginnen.

August 2019