22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

Transparenz, Stullenpapier und anderer milchiger Kram

von Eckhard Mieder

Als Schüler wurden meine Schulbrote in raschelndes, knapp durchsichtiges Papier eingewickelt. Ich steckte sie in den Ranzen, an manchen Tagen aß ich sie, an anderen nicht. So, wie wir entweder die Milch, die wir in der Schule erhielten, tranken, oder sie in ihrer Verpackung aus den Klassen-Räumen auf die Straße warfen. Gaudi auf Pubertär. Sie zerplatzten, und da wenige Milch, dem Blut ähnlich, nach viel Milch aussieht, wenn sie verläuft, war der Schaden zumindest optisch groß. Und unser Gelächter war es auch. Die Milch wurde, wenn ich es richtig erinnere, eine Zeitlang in pyramidenförmigen, plastikähnlichen Kartons geliefert; es gab auch eine Zeit, in der sie in durchsichtigen Plastebeuteln vor dem Schuleingang abgestellt wurde. Und da schwammen sie denn in Milch, weil es sich gar nicht vermeiden ließ, dass die eine oder andere Tüte unter dem Gewicht, dem Druck, des Milch-Kollektivs zerplatzte.
Stullenpapier und Milchverpackung. Das sind die zwei Dinge, die mir bei einem der derzeit am häufigsten gebrauchten Wörter einfallen: Transparenz. Ich höre und lese das Wort so häufig, dass ich es schon als Transpiration und Transparent geträumt habe.
Mit dem Wort Transparenz geht es mir mittlerweile wie mit dem Wort Freiheit. Es höhlt sich aus, es wird zu einem der Pilze, die, tritt man auf sie, nichts weiter enthalten als Staub. Ich nehme an, es gibt dutzende, hunderte Untersuchungen, Essays, Promotions- und Habilitationsschriften, die sich mit dem Phänomen allzu häufig gebrauchter und verbrauchter Begriffe befassen. Im Ergebnis allzu häufigen Gebrauchs, und vor allem eines Gebrauchs an Orten und von Leuten, zu denen sie nicht gehören oder nicht gehören sollten, werden diese Begriffe zu schlaffen Hüllen. Wie das Stullenpapier, wenn die Schnitten gegessen sind. Wie die Plastehüllen, die auf den Beton-Platten des Bürgersteiges zerplatzten. Nutzlos gewordene Transparenz.
Manchmal kommt es mir so vor, als säßen Wörter auf einer medialen Wippe. Tatsächlich höre ich das Wort Freiheit seltener, je öfter ich das Wort Transparenz höre. (Das kann damit zusammenhängen, dass Herr Gauck, der süffigste Freiheitsprediger deutscher Zunge, nicht mehr im Amt ist) Also: Steigt ein Wort auf, senkt sich ein anderes Wort nieder. Eine vorübergehende Erscheinung, selbstverständlich. Es wird sich wieder umkehren. Oder es wird ein anderes Wort kommen, das sich hochschraubt, in die Ohren windet, ins Gehirn drängt – bis es in sich zusammenfällt. Wie Stullenpapier, wie Milchtüten – ach, das sagtest du schon.
Transparenz jedenfalls ist angesagt. „Abgas-Skandal: VW-Aufseher fordert Transparenz“; „Opferanwälte beklagen fehlende Transparenz bei NSU-Anklage“; „Lobby-Regeln fürs EU-Parlament: „Meilenstein für Transparenz und Demokratie“.
Als zum ersten Mal die Chefs der Nachrichtendienste öffentlich befragt wurden, wurde das „Transparenzoffensive“ genannt.
In „virtuos“, dem Mitglieder-Magazin der GEMA-Mitglieder, erreichte mich in der letzten Ausgabe nicht nur der Geschäftsbericht; er war zudem mit dem „Transparenzbericht“ gekoppelt.
Neulich verwickelte mich ein kluger Student in einen Disput über die Frage, ob sich „Leadership“ am besten durchsetzen ließe a) durch Manipulation (Überredung) oder b) durch Transparenz (Überzeugung).
Ihre Bewerbungsrede für den Posten des EU-Kommissars hielt Frau von der Leyen hinter einem durchsichtigen Redner-Pult. Vermutlich ein Aufsatz aus Plexiglas, transparent; der Saaldiener entfernte es nach der Rede …
Je öfter Transparenz draufsteht, desto undurchsichtiger bleibt es (nur die durchsichtigen Dinge sind durchsichtig). Wer Transparenz verspricht, kann damit rechnen, dass er wohlwollend zur Kenntnis genommen und im Weiteren – nicht kontrolliert wird. Falls doch, gilt: Äh, was habe ich gesagt, nein, so habe ich das nicht gesagt, bitte wenden Sie sich an meinen Anwalt! Undurchsichtige Sache, diese Transparenz.
Jeder Regenwald, jede Pfütze ist transparenter als das Spiel von Absichtserklärung, Aufsicht und Ergebnislosigkeit.
Falls ich mich richtig erinnere, hieß das Papier für mein Schul-Brot „Transparentpapier“. Die durchsichtige Hülle der Milch hatte keinen speziellen Namen, war so Plaste-Zeug. So ähnlich wie das Plaste-Wort, das mir derzeit ins Hirn platscht.