22. Jahrgang | Nummer 17 | 19. August 2019

Kurt Hiller – Rezeptionsgeschichte(n)

von Hermann-Peter Eberlein

„Der Schriftsteller, Journalist, philosophisch fundierte Autor, Jurist, Sexualreformer, unabhängige pazifistische Sozialist, Jude ohne religiöse Bindung, Antifaschist und Verfolgter [sic!] der Nazi-Diktatur, Querdenker zwischen parlamentarischer Demokratie und marxistischer Orthodoxie Kurt Hiller (1885–1972) war ein bedeutsamer Intellektueller des 20. Jahrhunderts, der in den Jahren nach seinem Tod dem kollektiven Vergessen anheimzufallen drohte. Seine Bedeutung für die Geistes- und Kulturgeschichte Deutschlands wird allein durch sein Werk belegt, sie zeigt sich ferner in der Resonanz, die seine Schriften, Reden und politischen Initiativen bei Zeitgenossen ausgelöst haben.“
So beginnt Reinhold Lütgemeier-Davin seine Einleitung zu dem Sammelband, der die Ergebnisse einer Tagung zur Rezeption Hillers zusammenfasst, die von der Kurt-Hiller-Gesellschaft und dem Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte im Sommer 2018 veranstaltet worden ist. Dabei hat die Tagung keine Gesamtschau der Rezeptionsgeschichte bieten können oder wollen. So werden zu fünf Lebensbereichen Hillers jeweils nur ein oder zwei Beiträge präsentiert, die aber allesamt inhaltsreich sind und die Lektüre lohnen.
Unter dem Tucholsky-Zitat „Ein klares Bekenntnis zur Kriegsdienstverweigerung ist die Basis für allen Pazifismus“ beschäftigt sich Ian King mit dem zwiespältigen Verhältnis des Weltbühne-Autors Hiller zum Weltbühne-Herausgeber Tucholsky, das seinen deutlichsten Niederschlag vielleicht in einem Brief an Rolf Walther Hirschberg vom November 1959 findet, in dem Hiller rückblickend schreibt: „Tucholsky privat stand und stehe ich kritisch [gegenüber]. Seinen Wendriner-Geschichten fehlt nicht die Selbst-Persiflage-Nuance. Seine Art von Erotik missfällt mir. Au delà de la politique hat er einen ordinären Zug. Vor dem Suizid ist er auch noch gegen ‚die‘ deutschen Juden ungerecht geworden […] Das alles und noch einiges andere hindert nicht, dass er ein sehr großer satirisch-polemischer Schriftsteller war, als Kämpfer mündelsicher, als Künstler formgewaltig und mit überquellendem Füllhorn, ein Prosamann in der wahren Nachfolge Heinrich Heines.“
Raimund Wolfert widmet sich unter dem Titel „‚Die Presse schwieg fast durchgehends.‘ Kurt Hiller und der ‚Gegenentwurf‘ des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts von 1927“ mit dem Sexualreformer Hiller, der nach dem Kriege immerhin einer der wenigen überlebenden Mitarbeiter Magnus Hirschfelds im Berliner Wissenschaftlich-humanitären Komitee von vor 1933 und „einer der gefragtesten Ansprechpartner von selbsternannten Vertretern der neuen deutschen Homosexuellenbewegung“ war.
Zwei Autoren nehmen sich Hiller als Schriftsteller im Exil vor: Kurt Kraushaar begleitet „Hillers Weg zu den ‚Profilen‘ und deren Rezeption“ und der Herausgeber schildert „Kurt Hillers publizistisches Schaffen und dessen Rezeption in der Frühphase des Kalten Krieges“. Dazu tritt Rolf von Bockels Aufsatz zur Hiller-Rezeption in Hamburg vor 1945. Bei diesen drei Beiträgen liegt der Schwerpunkt des Bandes; im genauen Eingehen auf die Rezensionen zu den „Profilen“ von 1938 und im Nachspüren der schwierigen Vorkriegs- und Nachkriegs-Rezeption Hillers liegt vornehmlich sein wissenschaftlicher Ertrag. Abgeschlossen wird das Buch mit Beiträgen zu späten Geburtstagswürdigungen und Nachrufen und zur 1998 gegründeten Kurt-Hiller-Gesellschaft (beide von Harald Lützenkirchen).
Der Band wird durch ein Personenregister erschlossen; sehr schön sind die vielen Faksimiles von Zeitungsartikeln und Buchumschlägen. Überrascht habe ich feststellen können, welcher Wiedererkennungwert von der Typographie ausgeht, wenn der Umschlag von Hillers „Köpfe und Tröpfe“ neben dem allbekannten, weil millionenfach verbreiteten Umschlag der Originalausgabe von C. W. Cerams „Götter, Gräber und Gelehrte“ abgebildet ist – beide von Werner Rebhuhn gestaltet und mit dem charakteristischen großen „E“ im „O“ statt eines „Ö“. Solch schlichte, solch schöne Buchkunst gab es einmal!

Reinhold Lütgemeier-Davin (Herausgeber): Kurt Hiller – Rezeptionsgeschichte(n). Beiträge einer Tagung der Kurt- Hiller-Gesellschaft und des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte von Bockel Verlag, Neumünster 2019, 224 Seiten, 19,80 Euro.