22. Jahrgang | Nummer 16 | 5. August 2019

Das Festival in Aix-en-Provence startet neu

von Joachim Lange

Weder die Gelbwesten noch das streikfreudige Hilfspersonal haben dem neuen Festspielchef Pierre Audi in Aix-en-Provence bei seinem Start als Chef des südfranzösischen Traditionsfestivals die Tour vermasselt. Er war dreißig Jahre Chef der Oper in Amsterdam. „Seine“ erste Premiere verzögerte sich zwar um eine Stunde – doch das lag einfach an einem Regenguss, der kurz vor dem Beginn von Mozarts „Requiem“ in diesem extraheißen Sommer einsetzte. Es gab schon Zeiten, in denen ein ganzer Festspieljahrgang wegen Streik ausfiel oder lautstarker Radau der Musik im Théâtre de L’Archevêché (das befindet sich unter freiem Himmel im Innenhof des ehemaligen erzbischöflichen Palastes in der Altstadt) eine zweite Tonspur hinzufügte. An die Sicherheitskontrollen hat man sich in Frankreich schon gewöhnt. Auch daran, dass martialisch aufgerüstete Soldaten zumindest ein Gefühl von Sicherheit vermitteln.
Und doch: Aix-en-Provence mit Salzburg oder Bayreuth in einem Atemzug zu nennen, wie das zuweilen in den Dekaden von Audis Vorgängern Stéphane Lissner oder Bernard Foccroulle vorkam, wäre heutzutage vermessen. Dass das Festival zu einer sommerlichen Dependance eines internationalen Wanderzirkusses von Koproduktionen geworden ist (was unter Audi noch zunehmen dürfte), muss man wohl hinnehmen. Die Zeiten sind so und der besondere Charme des Ortes und der Provence bleiben ja. Auch wenn die neu gepflanzten Platanen am Cours Mirabeau noch ziemlich mickrig wirken.

*

Der Auftakt immerhin war vielversprechend: Der Italiener Romeo Castellucci fand im Théâtre de L’Archevêché einen doppelbödig ambitionierten, durchweg theatralischen Zugang zu Mozarts „Requiem“. Mit Einzelszenen und Chorchoreografien zwischen beklemmend, folkloristisch, phantasievoll und berührend, wollte er gleich auf die ganze Schöpfung hinaus. Musikalisch angereichert durch frühere Kirchenstücke, maurerische Trauermusik und Knabensopransolo sorgten Raphaël Pichon und das Orchester Pygmalion für die musikalische Grundierung dieses assoziativen Theaters.
Zu dem eindrucksvoll der Musik entwachsenden Bühnengeschehen werden in ununterbrochener Folge Begriffe an die Rückwand projiziert, die nicht weniger als (fast) alles, was ist und was war, im Visier haben. Alles, was wächst, kreucht und fleucht, als Natur vorhanden ist, vom Menschen hinzugefügt oder zerstört wurde, taucht da auf. Bis hin zu den diversen -ismen oder Tempeln, ja der Musik und dem konkreten Datum der laufenden Vorstellung am 3. Juli 2019. Am Anfang verwirrend, wird das zu einer atemberaubenden assoziativen Begleitmelodie. So imaginiert Castellucci weniger eine Totenmesse als ein Welttheater. Meist mit grandios eingängigen Bildern. Mit schwarzen Fahnen, die in der Dunkelheit geschwenkt werden, entfaltet zu Beginn die Trauer über den Tod und das physische Verschwinden einer einsamen alten Frau ihren Sog. Wenn später Siobhan Stagg (Sopran), Sara Mingardo (Alt), Martin Mitterrutzner (Tenor) und Luca Tittoto (Bass) in weißen Folkloregewändern ein kleines Mädchen mit Honig begießen, sie mit Ruß, Federn und Blut überschütten und wie eine archaische Priesterin ausstatten, dann rückt der Versuch der Menschen ins Visier, sich für das Unbegreifliche ein Bild zu machen, es zu personalisieren. Oder wenn ein Autowrack auf die Bühne geschoben wird, in dessen verbeulte Kühlerhaube sich nach und nach Menschen wie im Augenblick der Kollision hineinschmiegen und dann als Unfallopfer nebeneinanderlegen. Da rückt ein fernes überweltliches musikalisches Geschehen in die Welt der Möglichkeiten unseres Alltags vor. Zum Schluss richtet sich der Bühnenboden effektvoll ganz langsam auf und lässt all den Unrat, den die Menschen dort zurückgelassen haben, nach unten rutschen. Tabula rasa. Plötzlich hebt der wunderbare siebenjährige Knabe Chadi Lazreq hinter dem Dirigenten noch einmal zu einem gregorianischen „In paradisum“ an und zieht die Zuschauer in seinen Bann. Das wird nur noch übertroffen von jenem Baby, das uns bäuchlings von der leeren Bühnenmitte aus anstaunt. Was für ein Bild!

*

Tagsdrauf machte am selben Ort Christopher Honoré aus der „Tosca“ eine vor allem unterhaltsame Hommage an diese Rolle und ihre legendären Interpretinnen. Die Geschichte erzählt er eher nebenbei. Es beginnt mit dem Einfall eines Homestory-Filmteams bei Tosca-Legende Chaterine Malfitano (71) daheim. Die ist als La Prima Donna dem Personal hinzugefügt und spielt sich in dieser Rolle – grandios! – selbst. Samt Erinnerungen an gemeinsame Auftritte mit Domingo und natürlich an die Callas. Singen lässt sie dann aber, nach ein paar Tönen und schweren Herzens, die junge Angel Blue. Und sie vermittelt ihr all ihre reiche Erfahrung beim Gestalten dieser Partie. Im Wechselspiel mit Joseph Calleja (Cavaradossi) und Alexey Markov (Scarpia) eskaliert die Überblendung der Opernpartien mit deren Rollen im und mit dem Filmteam alsbald ins sexuell Übergriffige. Geschickt eingesetzte Livekameras, Nebenräume und Nebenhandlungen fordern ihren Tribut an Aufmerksamkeit.
Im dritten Akt übernehmen dann doch (anders als in den ersten beiden) das Orchester der Oper Lyon und sein Chef Daniele Rustioni, jetzt auf der Bühne, nebst den Sängern in Konzertformation das Zepter. Von der Engelsburg muss hier niemand springen, denn die steht nur als Modell neben der Bühne. Die Malfitano darf nach einem melancholischen Gang durchs Orchester oben in der Kulisse als Prima Donna noch einmal einen theatralischen Bühnentod sterben. Immerhin ein unterhaltsamer Abend, der Puccini-und besonders die Tosca- und Malfitano-Fans schwelgen lässt und einen Blick auf Geschichte und Rezeption dieses Stückes riskiert.

*

Interessanter und festspielkompatibel war dagegen die einstündige kammermusikalisch dichte Novität „Le Mille Endormis“ (Die schlafenden Tausend) von Adam Maors im Théâtre du Jeu de Paume. Sein israelischer Landsmann und Librettist Yonathan Levi hat die merkwürdig kafkaeske Geschichte selbst inszeniert, in der ein israelischer Premier (Tomasz Kumięga) 1000 Palästinenser in einen Tiefschlaf versetzten lässt, was dann freilich den Israelis selbst den Schlaf raubt. Dass die ins Traumreich entsandte Agentin, die dem subversiven doppelbödigen Untergrund ein Ende machen soll, in dem Traumreich hängen bleibt, in dem sich die Palästinenser eingerichtet haben, wird zu einer Pointe, die selbst subversiv utopisch genannt werden darf. Elena Schwarz führte die Protagonisten und das Ensemble United Instruments of Lucilin sicher durch diese Exkursion ins Unterbewusste.

*

Dass die schon rauf und runter gefeierte Andrea Breth-Inszenierung von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ auch in Aix-en-Provence in ihrer beklemmenden Unmittelbarkeit, die Zuschauer, die den Weg ins Grand Théâtre de Provence finden würden, ergreift, war zu erwarten. Schon weil sich Ingo Metzmacher am Pult des Ensemble Modern erneut als führender Maestro für die Moderne bewährt und Georg Nigel (wie schon zuvor unter anderem in Stuttgart und Berlin) der atemberaubende Lenz in dieser Paradeproduktion der Breth ist. Für die eigene künstlerische Bilanz ist diese sichere Bank gleichwohl eine eher eine Mogelpackung.

*

So politisch sich das Finale auch geben mag, der „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in der Inszenierung von Ivo van Hove und mit Esa-Pekka Salonen am Pult des Philharmonia Orchestra war trotz der Star-Besetzung (Annette Dasch als Jenny, Nikolai Schukoff als Jim Mahony und Karita Mattila als Lokadja Begbick) ein eher fades Missverständnis. Salonen dirigierte weichgespülte große Oper und fand außer in den rhythmisch pointierten Zwischenspielen nicht zu einem Weill-Sound, der packte. Das, was an Brecht-Text zu hören sein sollte, verschwand durch die offene und akustisch ungünstig Bühne, die Jan Verweyveld mit diversen Gerüsten, Projektionsleinwänden und einem Green Screen (unter anderem für einen Pornodreh) wie ein Filmset eingerichtet hatte, im akustischen Irgendwo. Riesenventilatoren und Nahaufnahmen der Choristen, die ängstlich dem drohenden Hurrikan entgegenblicken – das überzeugte ästhetisch ebenso wenig wie das bewusst ausgestellte Opernpathos oder gar die rezitierte Belehrung. Da konnte auch das demonstrativ krachende, auf die Gelbwestenwut anspielende Chaosfinale nicht mehr wirklich etwas ausgleichen.

*

Insgesamt überzeugt dieser erste Audi-Jahrgang noch nicht so recht. Hinzu kommt der Wegfall der traditionellen und aufschlussreichen Pressekonferenz, bei der auch das Programm des nächsten Jahres verkündet wurde. Offenbar weiß man selbst noch nicht, wie es weitergehen wird. Was bei den üblichen Vorlaufzeiten der Branche schon erstaunt und Spekulationen über politischen oder finanziellen Gegenwind für das Festival Tür und Tor öffnet. Man verlässt das Festival in Aix-en-Provence nach dem ersten Audi-Jahrgang – alles in allem – ein wenig skeptischer als in den vergangen Jahren.