von Hannes Herbst, zz. unterwegs in Polen
Bis 1970 hat die Bundesrepublik Deutschland die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu Polen verweigert und ließ die Vertriebenenverbände mit ihren Forderungen nach Rückgabe der ehemals deutschen Ostgebiete nicht nur frei, sondern zugleich politisch und anderweitig nach Kräften gefördert agieren. Endgültig geregelt wurde die Grenzfrage überhaupt erst 1990.
Was trotz dieser in Polen permanent mindestens unterschwellige Unsicherheit provozierenden westdeutschen Haltung an bewundernswerten Wiederaufbauleistungen in den ehemals deutschen Ostgebieten seit Ende des Zweiten Weltkriegs vollbracht wurden, lässt sich in Wrocław vielleicht an einem der Universität zugehörigen Kunstwerk besonders eindrücklich ermessen – dem 1733 im Hauptgebäude der dortige Alma Mater als Universitätskirche eingeweihten Oratorium Marianum in seinem prachtvollen barocken Habit. Das Oratorium wurde 1802 zu einem Bibliothekssaal umgewidmet und diente seit 1815 als einer der wichtigsten Konzertsäle Breslaus, indem Künstler wie Paganini, Liszt, Berlioz, Brahms und andere gastierten.
Bei den Bombenangriffen 1945 schwerst beschädigt, wurde das Oratorium nach dem Krieg notdürftig repariert und sehr profan genutzt, unter anderem für Veranstaltungen im Rahmen militärischer Ausbildung. Doch 1985 begann schließlich die Wiederherstellung des barocken Ur-Zustandes, die 2014 mit der Rekonstruktion der Deckengemälde abgeschlossen wurde, so dass der Saal nun wieder in „alter“ Herrlichkeit zu bewundern ist.
Das Oratorium ist zu üblichen Zeiten zu besichtigen, und wenn man dies tut, dann muss man ein Stockwerk darüber, jedoch auf der durch ein sehr schönes Treppenhaus getrennten gegenüberliegenden Gebäudeseite, natürlich ebenfalls die Aula Leopoldina aufsuchen, den repräsentativsten Saal der Universität – 1728 bis 1732 zu Ehren des Uni-Gründers erbaut, des römisch-deutschen Kaisers Leopold I. Dieses Auditorium Academicum ist der größte Barocksaal Polens und einer der größten Europas. Er blieb, wiewohl räumlich nur wenige Meter vom Oratorium Marianum entfernt, von Kriegsschäden verschont. Allerdings wussten die neuen kommunistischen Herren des Landes mit diesem Prunkstück wenig anzufangen. Doch nach umfangreichen Restaurierungen in den 1990er Jahren stockt den Besuchern ob der imposanten Raumgestaltung und insbesondere der Deckenbemalung längst auch an dieser Stelle heute wieder der Atem.
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Der Alte Jüdische Friedhof Breslaus, gelegen in der ulica Ślężna südöstlich der Schweidnitzer Vorstadt, ist ein durch eine hohe, schmucklose weiße Mauer vom Lärm und der Hektik der Stadt gut abgeschirmtes Geviert von etwa fünf Hektar Fläche. Dort befinden sich rund 12.000 Grabstätten. Ein Refugium, dessen Bestand an schon bejahrten, überwiegend Laubbäumen auch in den für unsere Breiten extrem heißen Tagen dieses Sommers angenehmen Schatten und einen Hauch nicht minder wohltuender Kühle spenden.
Die Gräberfelder sind überwiegend recht naturbelassen, um nicht zu sagen zugewuchert. Die Brenneseln überragen häufig die Grabsteine, und die erkennbaren Versuche, der grünen Opulenz landschaftsgärtnerisch Paroli zu bieten, sind offenbar immer nur von temporärer Wirkung.
In sehr gepflegtem Zustand findet der Besucher allerdings das Grab des in Breslau gebürtigen Ferdinand Lasalle und seiner Eltern vor. Lasalle hatte seinen Platz in der Geschichte der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung bereits errungen, als er sich, erst 39-jährig, in einem von ihm wegen Liebeshändeln angestrengten Duell am Morgen des 28. August 1864 in der Genfer Vorstadt Carouge von dem rumänischen Bojaren Janko von Racowitza eine so schwere Schussverletzung beibringen ließ, dass er drei Tage später daran verschied.
Friedrich Engels’ Kommentar (in einem Brief an Marx vom 7. November 1864) zu diesem tragischen Ende fiel ziemlich rüde aus: Lasalle sei „offenbar daran kaputtgegangen, daß er das Mensch (Helene von Dönniges, Lasalles Angebetete, um die es in der Affäre ging – H.H.) nicht sofort in der Pension aufs Bett geworfen und gehörig hergenommen hat, sie wollte nicht seinen schönen Geist, sondern seinen jüdischen Riemen.“
Nur wenige Schritte von Lassalles letzter Ruhestätte sind die, wie es auf ihrer Grabplatte heißt, „irdischen Ueberreste unserer unvergeßlichen Schwester, der Schriftstellerin und Gutsbesitzerin Fräulein Friedrike Kempner“ bestattet. Hinzugefügt ist noch dieses: „Ihr Leben war geistiger Arbeit und Werken der Nächstenliebe geweiht.“ Ihr soziales Engagement für Belange der Krankenpflege, der Armenfürsorge und der Reformierung des Gefängniswesens war sprichwörtlich. Ihre „Denkschrift über die Nothwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern“ brachte es zwischen 1850 und 1867 auf immerhin sechs Auflagen. Doch unsterblicher Ruhm schon zu Lebzeiten wuchs ihr als Dichterin ganz eigener Lyrik zu, für die sie von Zeitgenossen und in den Medien gnadenlos bespöttelt und parodiert wurde. „Schlesische Nachtigall“ und „schlesischer Schwan“ waren die ihr verliehenen Spottnahmen für Verse wie diesen (über Paris):
Ihr wißt wohl, wen ich meine
Die Stadt liegt an der Seine.
Oder jene:
Kennst Du das Land,
Wo die Lianen blüh’n
Und himmelhoch
Sich rankt des Urwalds Grün?
Wo Niagara aus den Felsen bricht,
Und Sonnenglut den freien Scheitel sticht?
Fast am gegenüberliegenden Ende des Friedhofs stellt ein anderes Kempner-Grab auch einen unmittelbaren Bezug zu unseren Tagen her. Die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Judith Kerr war neun Jahre alt, als sie mit ihren Eltern vor den Nazis aus Deutschland floh. Ihre Jugendbiografie unter dem Titel „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ wurde „ein aufklärerisches Jahrhundertbuch“, wie es in einem Spiegel-Nachruf hieß. Ihr Vater war Alfred Kerr, einer der einflussreichsten Publizisten und Theaterkritiker der Weimarer Republik.
Kerr stammte aus Breslau, doch war dies sein Künstler-, nicht sein Geburtsname. Dieser lautete Kempner. Und das Grab seiner Eltern Emanuel, eines Weinhändlers, sowie von dessen Gattin Helene, also der Großeltern väterlicherseits von Judith Kerr, ist auf dem Alten Jüdischen Friedhof erhalten und durch Ausschilderung leicht zu finden. Friederike Kempner war Kerrs Tante, Schwester seines Vaters.
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Während des Flanierens durch Wrocławs Innenstadt darf man es bei allen Blicken auf Häuserfassaden, Kirchen, Denkmäler und andere historische wie zeitgenössische Zeugnisse jedoch keinesfalls versäumen, die Augen regelmäßig über den Boden schweifen zu lassen. Denn gerade in dieser „Höhe“ hat Wrocław etwas ziemlich Einzigartiges zu bieten – Bronzestatuen in einer Größe von jeweils etwa 30 Zentimetern, häufig mit goldglänzenden Stellen als Folge häufiger Berührungen nicht etwa nur durch Kindern, sondern durch Betrachter aller Altersklassen.
Die Winzlinge stehen auf Plätzen, in Straßen, vor und neben markanten Gebäuden, hocken auf Fensterbänken, erklimmen Laternenpfähle … Im Jahre 2001 waren die ersten dieser Figuren im öffentlichen Raum aufgetaucht – als Projekt von Studenten der Wrocławer Kunsthochschule. 2009 waren es schon 95, und inzwischen sind es, der offiziellen Homepage dieser längst auch zu den Wrocławer Wahrzeichen zählenden Gemeinde zufolge, bereits über 1000.
Und alle sind – Zwerge. Doch mit welcher Phantasie geschaffen! Da gleicht keiner dem anderen. Der vor der Oper posiert mit einer Primaballerina, jener vor dem Schweidnitzer Keller, dem Restaurant im historischen Rathaus, wo schon Chopin, Goethe und andere eingekehrt sind, hat bereits ordentlich einen geladen und der neben dem Haupteingang zur Universität, bebrillt und in professoralem Ornat, studiert natürlich ein Buch …
* – Der erste Wrocław-Beitrag ist in der Blättchen-Ausgabe 14/2019 erschienen.
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