von Hannes Herbst, unterwegs in Polen
Als wir unserer über 90-jährigen früheren Institutskollegin Käthe S. von unserer Absicht erzählten, Wrocław zu besuchen, trug sie uns sofort auf, ihrer Heimatstadt Grüße zu übermitteln. Als junge Frau habe sie im damaligen Breslau während des Krieges Nachtwachen geschoben – im ersten Stock des Rathauses, in Erwartung von Bombenangriffen –, sich dabei schrecklich gelangweilt und heimlich gelesen …
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Das Stadtzentrum ist durch Arme der Oder mehrfach geteilt und mit Inseln versehen, auf deren größter neben dem gewaltigen Backstein-Dom sich auch die Kreuzkirche erhebt, an der Nikolaus Kopernikus das Amt des Scholastikers übertragen war, das er zwar nie persönlich ausübte, aber fast bis zu seinem Tode innehatte. Wer dem heutigen Flair und Charme dieser Altstadt nicht erliegt und wer insbesondere dem den Markt umgebenden Ensemble von Häusern diverser Baustile von der Gotik bis zur Moderne samt dem einzigartigen pittoresken spätgotischen Rathaus mit seinem knapp 70 Meter hohen Turm nichts abgewinnen kann, der sollte auf Reisen in alte Städte tunlichst verzichten.
Obwohl – mit dem Alter hat es in Breslau/Wrocław sein eigenes Bewenden. Denn Bombenangriffe waren bis Ende März 1945 zwar ausgeblieben, doch die verbrecherische deutsche Führung erklärte die Stadt zur Festung, die den Endsieg gegen die vorrückende Rote Armee bis zur letzten Patrone herbeikämpfen sollte, und die örtlichen Militärbefehlshaber waren hinreichend nibelungentreu, um den entsprechenden Befehlen gewissenhaft, – also gewissenlos – zu folgen.
NSDAP-Gauleiter Hanke, Hitlers Paladin in der Stadt, wollte die Zivilbevölkerung am 20. Januar 1945, in einem harschen Winter, per Befehl von jetzt auf gleich aus der Stadt jagen, scheiterte jedoch infolge völlig unzulänglicher Logistik und des hinhaltenden Unwillens der Betroffenen. Über 200.000 Frauen, (nicht wehrtaugliche) Männer und Kinder verblieben infolgedessen in der Festung. Sie gerieten in ein Inferno, das sich vom 15. Februar bis zum 6. Mai hinzog und das viele von ihnen nicht überlebten. Breslau wurde von der Roten Armee in erbittertem Häuserkampf erobert, in dem neben Infanteriewaffen Geschütze, Granatwerfer und immer wieder Flammenwerfer zum Einsatz kamen. Anfang April erfolgten schließlich schwere Bombenangriffe. Überdies ließ der letzte deutsche Kommandeur, General Niehoff, eine 300 Meter breite und einen Kilometer lange Schneise in die Innenstadt sprengen, um einen Behelfsflugplatz für die Versorgung der Festung auf dem Luftwege anzulegen. (Von dieser Piste soll sich Gauleiter Hanke kurz vor der Kapitulation am 6. Mai mit dem letzten Flugzeug, das in Breslau starten konnte, abgesetzt haben. Sein weiteres Schicksal ist ungewiss. Niehoff überlebte und kam mit zehn Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft davon.)
Am Ende lagen von 30.000 Gebäuden der Stadt knapp 22.000 in Trümmern, und zahlreiche Kulturdenkmäler waren zerstört.
In dieser Gestalt wurde Breslau auf der Grundlage von Beschlüssen der Siegermächte zusammen mit weiteren 100.000 Quadratkilometern ehemals deutscher Ostgebiete nach Kriegsende unter zwar zunächst nur vorläufige polnische Verwaltung gestellt, im Endeffekt allerdings ein für alle Mal Bestandteil des Nachbarstaates und heißt seither Wrocław. Diese Entwicklung gehörte zum Preis, der den Deutschen für den bis dato vernichtendsten Aggressionskrieg in der Menschheitsgeschichte zu entrichten auferlegt wurde. Ein Sachverhalt, den die DDR bereits im Görlitzer Abkommen mit Polen von 1950 völkerrechtlich anerkannte – die Trennlinie zu Polen wurde im offiziellen Sprachgebrauch der DDR folgerichtig als Oder-Neiße-Friedensgrenze bezeichnet –, dem die alte Bundesrepublik eine vergleichbare Anerkennung jedoch bis zum Warschauer Vertrag von 1970 verweigerte. Zusammen mit den jahrzehntelangen offensiv vertretenen Rückgabeforderungen der westdeutschen Vertriebenenverbände schuf dies einen der permanenten Spannungsherde im Ost-West-Verhältnis während des Kalten Krieges, der endgültig erst mit den internationalen Regelungen um die deutsche Einheit von 1990 zu den Akten gelegt werden konnte.
Doch selbst die westlichen Partner der Bundesrepublik hatten diese Zäsur bereits Jahrzehnte zuvor und zum ewigen Ärger der ewig Gestrigen in Bonn zumindest de facto vollzogen: Als das Auswärtige Amt, wie Der Spiegel Ende 1961 berichtete, damals „75 im westlichen Ausland gedruckte Atlanten prüfen“ ließ, musste festgestellt werden, „daß nur ein einziger, ein schweizerischer Atlas, den provisorischen Charakter der Oder-Neiße-Linie hervorhob“.
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Im heutigen Wrocław kann es zwischen Mai und Oktober – am helllichten Tag und aus heiterem Himmel – passieren, dass plötzlich Wagners Walkürenritt in erheblicher Lautstärke das Ohr des Besuchers attackiert. Dann steht der betreffende – nur wenig außerhalb des Stadtkerns – mit Sicherheit am etwa einen Hektar großen Multimediabrunnen der Stadt, dessen 300 Wasserdüsen mit dem ersten Takt der Musik beginnen, Geysire, Wassernebel, Punkt- und Palmenstrahlen sowie andere Figuren in die Luft zu zeichnen. In den Abend- und Nachtstunden illuminieren überdies 800 Lichtpunkte und drei Feuerdüsen diese Shows von bis zu einer Stunde Dauer. Ein höchst kurzweiliges Spektakel.
In unmittelbarer Nachbarschaft des Brunnens ragt wie eine gigantische, sich nach oben hin verjüngende Schichttorte die Jahrhunderthalle in den Himmel. Schmuckloser, nachgerade hässlicher Beton, doch – UNESCO-Weltkulturerbe. Denn der Trumm, ein Werk des damaligen Breslauer Chefarchitekten Max Berg, wurde bereits 1913 fertiggestellt und bietet bei Veranstaltungen nicht nur 10.000 Personen Platz, sondern seine 42 Meter hohe Kuppel mit insgesamt 65 Metern Durchmesser war damals das größte freitragende Bauwerk der Welt. Eines der ersten und bedeutendsten Beispiele moderner Stahlbetonarchitektur des 20. Jahrhunderts. Und die Befürchtungen eines Teils des seinerzeitigen Breslauer Stadtrats angesichts der 1911 vorgestellten Pläne für das Projekt, das Riesending könnte einfach einstürzen, haben sich nicht bewahrheitet. Jedenfalls bis jetzt.
Wird fortgesetzt.
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