von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Max-und-Moritz-Zirkus sowie eine Peter-Zadek-Gedenktafel …
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Der Anfang: Ein Knall – Kanone mit Konfetti, hinterher eine geschlagene Viertelstunde Slapstick mit Grimassen und Verbaldadaismus (= Kauderwelsch) der beiden Brutalo-Burschen Max und Moritz. – Das Ende: Nach ihrem Sturz in Meister Bäckers Mehlkiste sowie anschließender Verarbeitung zu Knusperbroten verkrümeln sie sich ziemlich deppert von der Bühne des Berliner Ensembles.
Zwischen Ah und Oh dieser „Bösebubengeschichte für Erwachsene nach Wilhelm Busch“ ließ Regisseur Antu Romero Nunes, bekannt für seine ins Kraut – oder Unkraut – schießende Fantasie, neunzig Minuten lang und länglich die Püppchen angestrengt puppenlustig tanzen: Witwe Bolte, Lehrer Lämpel, Onkel Fritz, Schneider Böck und zuletzt den Bäckermeister – alle erstklassig besetzt mit Constanze Becker, Sascha Nathan, Tilo Nest. Und mittenmang die elastisch herum kaspernden M.M.-Bübchen Stefanie Reinsperger und Annika Meier, sekundiert von donnerndem Schlagwerk (Johannes Hofmann, Caroline Bigge). Auch Windmaschine, Wolkentücher und Lichtkegel (Bühne: Matthias Koch) haben effektvolle Einsätze. Wie das Publikum: „Jetzt alle Handys hoch und heftig geflimmert!“ Was Stimmung macht.
Klugerweise hat man im Programmheft die sieben Streiche der missratenen, von Victoria Behr historisch korrekt kostümierten Bengel im unschlagbar gereimten Original-Wortlaut abgedruckt – lauter geflügelte Worte. Sollte man sich vorher zu Gemüte führen. Denn was da hopsasa auf der Bühne abgeht, ist nicht immer oder überhaupt nicht auf den berühmten Meister Busch zurückzuführen.
Der wohl für weitaus berühmter sich haltende Meister Nunes hat nämlich die überflüssige Wollust, die perfekte Vorlage unbedingt noch mit Mätzchenmacherei und Schnörkelschnickschnack theatralisch aufzudonnern. – Macht aber alles nur unverständlich.
Für Freunde chaotischen Tingeltangels, täppischer Clownerie, Blödelei und Trallala geht die Chose durch als ein tolles Fest. Weniger Anspruchsvolle, weniger Humorbegabte (wie ich) halten die Show für Quatsch.
Freilich, auch Wilhelm Busch zielte mit seinem abgründig sarkastischen, durchtrieben grotesken und nicht eben zimperlichen weil vor hemmungsloser Gewalt nur so strotzendem Splatter-Werk von 1815 nicht aufs Moralisieren oder aufs pädagogisch Wertvolle. Doch diesen frühen (ersten?!) Comic so ganz ohne auch nur irgendeinen scharfen Seitenblick aufs Heute zu inszenieren, ist dann doch bisschen wenig. Irgendeine Pointe? – Fehlanzeige! Also bloß Purzelbaum-Betrieb. Für die einen ist das begeisternd schon alles; für die anderen kaum mehr als nichts. – „Kurz, im ganzen Ort herum / Ging ein freudiges Gebrumm: / ‚Gott sei Dank! Nun ist’s vorbei / Mit der Übeltäterei!‘“
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„Ich träumte von einem Theater, das Mut macht.“ Ein schlichter, klarer Satz von Peter Zadek, von 1992 bis 1995 – neben Heiner Müller – Mitglied des Direktoriums des Berliner Ensembles. Hinter Zadeks Träumerei steckt Großes. Sowie einer der Gründe für ein schweres Zerwürfnis: Der Regie-Star hasste Müllers zynischen Pessimismus – und verließ Berlin.
Jetzt erst, zum 93. Geburtstag des internationalen Großkünstlers Ende Mai, spendierte ihm der Berliner Senat eine „Berliner Gedenktafel“ für das Geburtshaus in der Offenbacher Straße im gutbürgerlichen Stadtbezirk Wilmersdorf, wo er seine Kindheit verbrachte. Eine ziemlich späte „staatliche“ Ehrung; immerhin revolutionierte dieser Regisseur – mit internationaler Wirkung – das deutsche Nachkriegstheater. Sich selbst freilich – spannungsvoller Widerspruch – hielt er gelassen für konservativ. Der 30. Juli ist Zadeks 10. Todestag. Grund genug für ein paar Worte mehr als auf der blau-weißen Gedenk-Brosche neben der Haustür unterzubringen sind.
Als Peter, der jüdische Junge aus Berlin, Jahrgang 1923, anno Hitler 1933 mit den Eltern nach England emigrierte (erst im Alter von gut dreißig Jahren sollte er in die alte Heimat zurückkehren), da fiel ihm auf, dass die Deutschen glaubten, „alles schon zu wissen“. Er meinte, mit seinem Theater – in England laborierte er an kleineren Bühnen – den Leuten den Kopf aufstoßen zu müssen. Und zwar mit unideologischer Lust allein durch pralles Spiel mit einer Truppe, die er fortan möglichst dauerhaft an sich band. Die sprengte, anders als ihre „wie ein Beamtenvolk“ werkelnden Kollegen, den Gips weg, den allwissende Oberlehrer über die Bildungsanstalt Bühne geschichtet hatten. Die Zadek-Familie schlug aus den alten Stücken (gern von Shakespeare) ungeahnt neue Feuer, die das Publikum entflammten zwischen Jubel und Wut. Regisseur Zadek warf mit kalkuliertem Übermut und leichter Hand die Blitzlichter des Boulevards, den saftigen Sound des Pops, die dampfenden Pferdeäpfel des Zirkus (was für V-Effekte!) gegen die Vorstellung von Theater als moralische Erbauungsanstalt. Er zeigte als einer der ersten, dass Theater auch in Fabrikhallen, Kneipen und Kellern funktioniert. Ein wahrlich toller Ausbruch aus den Konventionen der Bildungsbürgerei.
Immer, wenn dieser klassische Patriarch aufkreuzte mit luxuriösen Allüren und Hofstaat, mit Künstlerschal und dunkler Brille, da knisterte die Luft. Der Bohemien und Grandseigneur mit wachem, dabei deutlich mokantem Blick bekannte: „Als Kind war ich ein furchtbarer kleiner Snob. Meine Lebensform ist Spielen.“ Das blieb so bis zum Tod in Hamburg im Hochsommer 2009.
Er wollte, dass wir aufeinander klatschen, weiß Angela Winkler, eine von Zadeks Lieblingsschauspielerinnen. Klar, P.Z. wollte tolles Schauspielertheater. Ein Theater, das die Erfahrungen und Gefühle der Spieler mit denen des Autors konfrontiert, indem die akribisch dem Text nachspüren. Das klappt allein mit äußerst feinfühligen, besonders hingebungsvollen, sagenhaft spinnerten und ungeniert neugierigen, für (fast) alles offenen Schauspielern.
„Erklärungstheater“ sei ihm ein Graus; seine Kunst sei „kindlich“, gestand dieser notorische Beobachter, der nie ein Parteigänger war. Für ihn zählten Instinkt und Phantasie, was damals schon die Kritik auf den Plan brachte (Peter Stein: „Gefühlsduselei“), in den 1970er Jahren. Und erst recht später, als das Konzept-, Diskurs- oder Projekt-Theater aufkam, das wir hier nicht verteufeln wollen. Doch auch in postdramatischen Zeiten muss gelten: ästhetische Vielfalt. Alle Formen sollen sein, keine darf herrschen.
Psychologie plus Textanalyse, daraus erwuchs wie selbstverständlich die Gegenwärtigkeit von Zadeks besten Inszenierungen. Wobei ihm „Gesellschaftskritik“ nicht „das wichtigste“ war. Und schon gar nicht „Bewusstseinsentwicklung“, die sein Gegenspieler, der Achtundsechziger Peter Stein, so verbissen anstrebte. Zadek, der seine kometenhafte Karriere in der 1960er Jahren in Bremen begann, sich jedoch nie als Achtundsechziger sah, der war bescheiden fürs Mutmachen. Regie galt ihm als eher nachrangig.
Der raffinierte Spieler und naive Streuner durch der Menschen unaufgeräumtes Dasein hatte keinen Stil. Die Stilisierungsmanien, der Dekonstruktionswahn, das Ballermannhafte vieler Regisseure schon damals gingen diesem Genie des Einfühlungstheaters schwer auf die Nerven. (Uns heutzutage oft auch.) Die Dominanz einer Interpretation war ihm suspekt. Wie auch eine (deutsche?) Mentalität, die „demjenigen Recht gibt, der am lautesten brüllt“. Selbst auf ganz großer Bühne war sein Theater ein letztlich intimes Theater. Eins der befreienden Gefühle und gewagten Gedanken nebst einem irritierenden Rest Unerklärbarkeit. „Wenn man gut war“, sagte er, „merkt niemand, dass da ein Regisseur war.“
Schlagwörter: Antu Romero Nunes, Berliner Ensemble, Max und Moritz, Peter Zadek, Querbeet, Reinhard Wengierek