von Mathias Iven
„Privatgelehrter, Außenseiter, Aufklärer, jüdischer Antizionist, Weisheitslehrer: Brunner ist der etwas andere Philosoph.“ Mit diesen wenigen Worten umreißt Robert Zimmer das Werden und Sein eines heute zu Unrecht vergessenen Intellektuellen, der abseits jeglicher Öffentlichkeit fast ein halbes Jahrhundert lang an seinen Büchern arbeitete. Brunner machte keine Besuche, hielt keine Vorträge und schloss sich keinen Vereinigungen an. Im universitären Lehrbetrieb spielten seine Überlegungen keine Rolle, und so gab es auch keine Schüler, die seine Lehre weitertrugen. Dennoch wurde sein geistiges Erbe immer gepflegt. Heute beschäftigen sich zwei Institutionen mit der Erforschung und Verbreitung seines Werkes: das 1947 in Den Haag gegründete Internationaal Constantin Brunner Instituut und die 1975 in Hamburg ins Leben gerufene Constantin-Brunner-Stiftung. Vorsitzender dieser beiden Einrichtungen ist Jürgen Stenzel, der sich seit drei Jahrzehnten mit Brunners Schaffen befasst. Jüngstes Ergebnis ist das von ihm gemeinsam mit Robert Zimmer herausgegebene Constantin Brunner-Lesebuch.
Doch wer war eigentlich dieser Constantin Brunner? Geboren wurde er 1862 in Altona als Arjeh Yehuda Wertheimer. Nach einer abgebrochenen Ausbildung am jüdischen Lehrerseminar in Köln studierte er ab 1884 zunächst in Berlin und dann in Freiburg Philosophie und Geschichte. Zu seinen Lehrern gehörten unter anderem Wilhelm Dilthey, Julius Ebbinghaus und Paul Deussen sowie der ihn maßgeblich prägende Neukantianer Alois Riehl. 1890 beendete er seine Studien, ohne einen akademischen Abschluss erlangt zu haben. Die Art und Weise, wie Philosophie gelehrt wurde, war ihm zu abstrakt. Es konnte nicht nur um eine auf das Theoretische beschränkte Übung gehen. In seiner 1924 erschienenen autobiographischen Schrift Vom Einsiedler Constantin Brunner fasste er seine Forderung in die Worte: „Wer nicht Philosophie lehrt, daß er solcherart zum Beweger sie macht, der lehrt nicht Philosophie, und uns geht sein Lehren nichts an. Wer sich von mir will lehren lassen, der hat mit mir zu tun, mit meinem ganzen Menschen, und ich will zu tun haben mit dem ganzen Menschen des Lernenden; ich gebrauche nicht nur sein wissendes Denken, sondern auch seine Gefühlsdisposition.“
Als ein Suchender kehrte Brunner nach Hamburg zurück und eröffnete dort ein nicht sehr erfolgreich laufendes „Litterarisches Vermittlungsbüro“, das angehenden Schriftstellern bei der Verwertung ihrer Werke helfen sollte. Ab 1893 gab er gemeinsam mit dem Kritiker Leo Berg und später mit dem Schriftsteller Otto Ernst die Literaturzeitschrift Der Zuschauer heraus. Das in dieser Zeit von ihm für seine Artikel häufig benutzte Pseudonym „Constantin Brunner“ sollte er später als bürgerlichen Namen eintragen lassen.
Zum Wendepunkt in Brunners Leben wurde das Jahr 1895. Er gab seine bisherige Tätigkeit auf und heiratete. Seine Frau brachte nicht nur einiges an Vermögen mit in die Ehe, sondern auch zwei Töchter. Die ältere zog bald schon aus, doch die jüngere sollte in den kommenden Jahren zur wichtigsten Diskussionspartnerin Brunners werden. Das von Lotte Brunner ab 1903 geführte Tagebuch ist für die Forschung bis heute eine der aufschlussreichsten Quellen zu Constantin Brunners Leben und Denkweise.
Bereits kurz nach der Hochzeit zog die junge Familie von Hamburg nach Berlin. Um sich ganz der Arbeit an dem von ihm geplanten philosophischen Werk widmen zu können, sah Brunner nur eine Möglichkeit: den vollständigen Rückzug ins Private. Und so verbrachte er sein Leben, häuslich umsorgt und zugleich abgeschirmt, fortan an seinem Schreibtisch. In einem Brief an Walther Rathenau, geschrieben im Februar 1919, wird Brunner bekennen: „Aber ich bin und bin kein Mensch der Praxis und kann nicht zu schaffen haben mit keinerlei Praxis der Menschen und will nicht hinaus. Es war eigentlich mein fester und wirklicher Vorsatz, keine Zeile je bei meinem Leben heraus zu lassen. […] Ich unterzeichne keinen Aufruf mit, rede in keiner Versammlung, gehe nie und ging nie in eine Versammlung oder Verein und habe die Ehre, keinen Journalisten zu kennen.“
Am 26. Juli 1907 schloss Brunner das Manuskript seines opus magnum ab, ein paar Monate darauf wurde Die Lehre von den Geistigen und vom Volke – ein, wie Zimmer zu Recht bereits an anderer Stelle bemerkt hat, „vergessenes Hauptwerk der Philosophie des 20. Jahrhunderts“ – an die Buchhandlungen ausgeliefert. Das fast 1200 Seiten starke Buch, dessen Veröffentlichung von Gustav Landauer in seiner Eigenschaft als Lektor des Berliner Karl Schnabel Verlages vermittelt und betreut wurde, stellt die Beziehung des Menschen zur Welt in den Mittelpunkt. „Es handelt sich“, wie Brunner in seinem „Ankündigung“ überschriebenen, 120 Seiten umfassenden Vorwort erklärte, „um ein ausgedehntes Werk, das die allerwichtigsten Interessen der Menschheit in erneuter Betrachtung zu umgreifen hat und, was noch mehr ist: um ein Werk von großen, weitreichenden, der Mitwelt noch gänzlich unvertrauten, ja ihre ganze Denkweise und Überzeugung gewaltsam antastenden und höchlichst beleidigenden, grundstürzenden Absichten.“ Brunner konzipierte das Buch als ersten Teil einer sogenannten und nicht vollendeten „Fakultätenlehre“, die Robert Zimmer so zusammenfasst: „Praktischer Verstand, Geist und Aberglaube: Dies sind die einzigen drei Möglichkeiten, die Welt aufzufassen, die einzigen drei ,Fakultäten‘, die Brunner zulässt. Auf der Ebene des praktischen Verstandes treffen sich alle Menschen.“ Und eben diesem praktischen Verstand widmet sich Die Lehre von den Geistigen und vom Volke.
Im Frühjahr 1913, fünf Jahre nach Erscheinen seines Hauptwerkes, verlegte Brunner seinen Wohnsitz von Berlin nach Potsdam. Anders als in früheren Jahren empfing er hier regelmäßig Besucher und weitete seine Korrespondenz beträchtlich aus. Unermüdlich war er bei der Arbeit. Sieben seiner Bücher, einschließlich der 2. Auflage seiner Lehre von den Geistigen und vom Volke, wurden in dem seit 1918 in der Stadt ansässigen Verlag von Gustav Kiepenheuer veröffentlicht. Fast zwei Jahrzehnte lebte er in der heutigen Berliner Straße, unmittelbar an der Havel. Doch im Herbst 1930 zwang ihn seine schwierige finanzielle Situation – er hatte nie über feste Einkünfte verfügt und war immer auf die Unterstützung von Freunden und Mäzenen angewiesen –, Potsdam zu verlassen. Im Berliner Stadtteil Wilmersdorf fand sich in einem Mietshaus der Helmstedter Straße eine passende Unterkunft. Im August 1932 feierte man dort seinen 70. Geburtstag. Ein paar Tage darauf konnte er im Berliner Tageblatt lesen: „Brunner ist endlich einmal wieder ein Philosoph, den der Laie lesen kann.“ Geschrieben hatte das der Journalist Leo Hirsch. Weiter führte er aus: „Nun, es ist nicht unsere Sache, hier die ewigen Richter zu spielen und Brunners Philosophie auf etwaige Widersprüche zu prüfen. Die gleichen Professoren, die ihn heute nicht kennen, werden das in hundert Jahren mit riesigen Wälzern besorgen. Aber eins bleibt gewiß: es gibt in Deutschland heute keinen besseren Schriftsteller als diesen unbequemen Outsider.“
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gab es in Deutschland keinen Platz mehr für Constantin Brunner. Im April 1933 verließ er mit seiner Familie Berlin. Am 27. August 1937, am Tag seines 75. Geburtstages, starb Brunner im niederländischen Exil in Den Haag. Dort, wo auch der ein Leben lang von ihm verehrte Spinoza seine letzten Jahre verbracht hatte. Seine Frau Leoni und ihre Tochter Lotte wurden Anfang 1943 deportiert und wenige Wochen später im Konzentrationslager Sobibor ermordet.
Will man sich heute mit Brunners Werk beschäftigen – und die mit dem Lesebuch jetzt vorliegende, das ganze Spektrum seiner Philosophie in den Blick nehmende Zusammenstellung sollte dafür Anlass genug sein! –, so muss man sich vor allem auf seine polemische Eindringlichkeit einlassen. In einem 1917 von ihm in der Zeitschrift Nord und Süd veröffentlichten Lebensabriss erinnerte er sich an einen frühen Traum: „Ich aber würde dereinst so reden, daß sie alle umkehren müßten. An meiner Berufung zweifelte ich keinen Augenblick“. Jürgen Stenzel meint dazu: „Er erklärt, nennt, ja beschwört in seinen Schriften immer wieder neu und eindringlich die Ergebnisse seines Denkens. Das hat zuweilen etwas von Überredenwollen.“ Mit Brunner haben wir einen auch für die heutige Zeit wichtigen Denker vor uns, der, so Robert Zimmer, „eine neue philosophische Wirklichkeitsdeutung mit lebensreformatorischen Absichten verbindet, die weit über den akademischen Diskurs hinausgehen“.
Schließen wir mit einem Wort von Constantin Brunner, der in einem seiner letzten Texte sein für die Geisteswissenschaften so notwendiges Verständnis von einer „aktiven“ Philosophie mit dem Satz ausdrückte: „Philosophie kann man nicht haben: man muß sie sein und leben.“
Jürgen Stenzel / Robert Zimmer (Hrsg.): „Was du nicht richtig denkst, das musst du verkehrt leben“ – Ein Constantin Brunner-Lesebuch, Königshausen & Neumann, Würzburg 2019, 463 Seiten, 24,80 Euro.
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