von Alfons Markuske
Auf die Idee, noch während des 30-jährigen Krieges und ohne Klarheit darüber, ob der überhaupt mal und wenn ja wann enden würde, in der tiefsten deutschen Provinz mit dem Bau des größten frühbarocken Schlosses von ganz Deutschland zu beginnen, muss man erst mal kommen. Und man muss in einem weitgehend zerstörten und pauperisierten Land auch noch das Geld dazu haben. Bei Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha, genannt der Fromme, kam beides zusammen: Baubeginn war 1643, und bereits zwölf Jahre später war das Monumentalbauwerk im Wesentlichen fertig. Das Schloss erhielt den Namen Friedenstein. Sehr passend zur Zeit, denn – um es mit Günter Kunert zu sagen:
„Als der Mensch unter den Trümmern
seines bombardierten Hauses
hervorgezogen wurde,
schüttelte er sich und sagte: Nie wieder!
Jedenfalls nicht gleich.“
Das Schloss hat die Zeitläufte überdauert, es wurde nie zerstört und ist heute in denkmalpflegerisch insgesamt gutem Zustand zu besichtigen. Leider nur hat man bei der letzten Aufhübschung in der Wahl der Farbe für die Umrandungen der zahllosen Fenster offensichtlich gründlich danebengegriffen. So konnten Wind und Wetter für hässliche Auswaschungen sorgen, die die ansonsten makellos weißen Fassaden durchgängig verunstalten. Aber im Schloss selbst kann man zum Flyer greifen, auf dem das Outfit des Gebäudes völlig makellos erscheint …
Die von Sachsen-Coburg und Gotha – wie die Linie bis heute heißt – haben es ja nie ganz bis in die erste Reihe deutscher Fürstenhäuser geschafft. Was sie aber durch ebenso zielgerichtete wie kontinuierliche, heute würde man sagen nachhaltige Heiratspolitik über die Jahrhunderte an dynastischem Erfolg eingefahren haben, das macht ihnen sonst kein europäisches Adelshaus nach. So war der Prinzgemahl Albert der britischen Königin Viktoria einer von Sachsen-Coburg und Gotha, entstammend der ersten Ehe seines Vaters – auch ein Ernst I. – mit Prinzessin Luise aus dem Hause Sachsen-Gotha-Altenburg. (Scheidung der Ehe wegen Zerrüttung durch wechselseitigen Ehebruch – 1826.) Leopold, der jüngere Bruder dieses Vaters, schaffte es 1831 auf den Thron des Königs der Belgier, seine Schwester Juliane wurde russische Großfürstin. Später stellte das Geschlecht auch Könige in Portugal und in Bulgarien, und aktuell reicht die Ahnentafel, die im Gothaer Schloss präsentiert wird, darüber hinaus bis in die Königshäuser von Schweden, Norwegen und … und …
Eine Reihe prachtvoller ehemaliger Repräsentations- und Wohnräume der herzoglichen Familie sind im Schloss zu besichtigen. Mittendrin eine Kopfbedeckung mit Kokarde: Herzog August von Sachsen-Gotha-Altenburg zählte zu den bekennenden Napoleon-Fans im deutschen Adel. Insgesamt fünfmal, so lässt sich im Internet nachlesen, konnte er den Imperator in Gotha begrüßen. Bei dessen Aufenthalt nach der Rückkehr vom Tilsiter Friedensschluss im Jahre 1807 organisierte sich der Herzog mit Hilfe von Napoleons Kammerdiener einige Devotionalien – getragene Kleidungsstücke des Franzosenkaisers. Darunter ein Dreispitz. Der gilt heute als eine der weltweit überhaupt nur sechs wirklich authentischen Kopfbedeckungen des Korsen.
Dazu passt folgende Anekdote: Auf der Durchreise zum Erfurter Fürstenkongress 1808, folgt man der Wiedergabe durch die Ostthüringer Zeitung vom 29. Mai 2010, soll Napoleon Station im Residenzschloss gemacht und beim Herzog um eine Tasse heiße Schokolade ersucht haben. Die kredenzte der Herzog höchstselbst – mit dem Hinweis, die Tasse sei in der eigenen Porzellanmanufaktur hergestellt worden. Die Bitte des Kaisers allerdings, man möge ihm das feine Tässchen als Andenken überlassen, wurde abschlägig beschieden. Sichtlich konsterniert soll der Feldherr nach dem Warum gefragt haben. Er würde ihm lieber seine zwei Herzogtümer schenken als diese Tasse, so der Gothaer. Aus der hätte der große französische Kaiser getrunken, er würde sie künftig wie eine Reliquie in Ehren halten. Napoleon zeigte sich geschmeichelt.
Das Residenzschloss bietet dem Besucher aber auch noch eine wirkliche Preziose: Im Westturm wurde im späten 17. Jahrhundert ein Theater eingerichtet. Dort wirkte mit Conrad Ekhof einer der bedeutendsten Schauspieler und Theaterleiter des 18. Jahrhunderts. Er war einer der Begründer von Häusern mit fest angestellten Ensembles (im Unterschied zu den bis dato reisenden Truppen) und der finanziellen Absicherung von Schauspielern im Alter. Nach Ekhof ist dieses Theater benannt. Dort debütierte zum Beispiel August Wihelm Iffland, der später am Mannheimer Nationaltheater in der Uraufführung von Schillers „Die Räuber“ den Franz Moor gab. Der nach Iffland benannte diamantbesetzte Eisenring wird heute dem jeweils bedeutendsten und würdigsten Schauspieler des deutschsprachigen Theaters (nach dem natürlich höchst subjektiven Urteil des jeweiligen Trägers, der seinen Erben testamentarisch selbst bestimmt) auf Lebenszeit verliehen.
Doch zurück zum Ekhof-Theater: Es ist das einzige auf der Welt mit noch (oder – nach umfangreichen Sanierungsmaßnahmen – besser gesagt wieder) funktionierender Bühnenmaschinerie aus dem 17. Jahrhundert. Bewegt werden muss die von Hand, was für die jährlichen Sommerspielzeiten dem alt-ehrwürdigen „Gewerk“ des Kulissenschiebers zu einer partiellen Renaissance verholfen hat.
Sehr anschaulich und interessant nicht zuletzt für Kinder ist das Museum der Natur im Schloss, trefflich „Tiere im Turm“ genannt. Gezeigt werden zahlreiche Präparate in thematischen Abteilungen wie Regenwald, Antarktis, Nacht et cetera. Begründet hatte diese der Schlossbauherr Ernst I., und zwar schon 1640.
Vom Schloss aus sind es nur wenige Schritte bis zu einer üppigen Wasserkunst mit Springbrunnen und einer dreistufigen Kaskade, die sich vom Schlossberg bis hinunter zum Hauptmarkt erstreckt. Errichtet wurde sie Ende des 19. Jahrhunderts – zum Gedenken an eine „flüssige“ Meisterleistung. Weil Gotha und seine nähere Umgebung jeglicher fließender Gewässer entbehren, hatte Landgraf Balthasar von Thüringen zwischen 1366 und 1369 den Leina-Kanal anlegen lassen, der über ein Aquädukt bis heute Wasser aus dem Thüringer Wald in die Stadt leitet.
Mitten auf dem Markt selbst und nicht, wie meist üblich, am Rande eines solchen steht Gothas Rathaus. Genau am Kreuzpunkt zweier alter Handelswege, weswegen das Renaissancegebäude 1567 auch zunächst als „Kauff-Haus“ errichtet wurde. Ab 1641 nahm Ernst I. dort Quartier – bis zum Umzug ins Schloss. Besonders die Nordfassade des Rathauses ist reich verziert. Bei dem vergoldeten Kopf über der Uhr soll es sich um jenen des 1567 enthaupteten Ritters von Grumbach handeln, dem – vielleicht ob der Ungeheuerlichkeit des Vorganges – noch heute beim Schlag jeder vollen Stunde der Kiefer nach unten klappt.
Im heutigen Gasthof „Zur Löwenburg“ (Hauptmarkt 42) weilte am 27. Februar 1537 Martin Luther. Eine Nierenkolik hatte ihn so schwer niedergestreckt, dass er sein Testament machte und seinem Freund Johannes Buggenhagen diktierte: „Ich will in Gotha begraben sein.“ Doch auch in diesem Falle wären die europäische und die Weltgeschichte nicht mehr anders verlaufen, denn Luthers Thesenanschlag mit seinen bekannten Folgen lag da schon 20 Jahre zurück.
Und wer nach einem Beispiel für touristische Fakes sucht, der wird am Hauptmarkt ebenfalls fündig – beim so genannten Cranach-Haus (Hauptmarkt 17). Ob Lucas Cranach der Ältere tatsächlich sein letztes Lebensjahr in Gotha verbracht hat, wie etwa Wikipedia behauptet (gestorben ist er 1553 in Weimar), oder ob nur seine Töchter Ursula und Barbara – letztere verehelicht mit dem sächsischen Kanzler Christian Brück, der infolge Verwicklung in die „Grumbachschen Händel“ ebenfalls seines Hauptes verlustig ging – dort gelebt haben, mag dahingestellt bleiben. Gebaut wurde das Haus jedenfalls im Auftrag des Gothaer Ratsherren Brengebier, dessen Tochter Barbara der ältere Cranach 1512 ehelichte. Da war er Hofmaler von Friedrich dem Weisen von Sachsen mit Werkstatt in Wittenberg. Später zog er mit Familie nach Weimar. Das mag für Fans dieses Großmalers der Reformationszeit nun zwar kein Grund sein, nicht auch mal eine kleine Wallfahrt nach Gotha zu unternehmen. Doch Vorsicht: In das heute dort stehende Cranach-Haus hat der Namensgeber seinen Fuß nachweislich allenfalls in den Keller setzen können. Ein Schild am Gebäude teilt nämlich mit: „Lucas Cranach d. Ä. […] wohnte zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Vorgängerbau dieses Hauses, das dem Stadtbrand von 1632 zum Opfer fiel.“ Nur die Gewölbe unter dem Haus stammen noch vom ersten Gebäude.
Zu korrigieren bleibt die anfängliche Einstufung Gothas als tiefste Provinz. In punkto Ladenöffnungszeiten ist der Ort höchst weltstädtisch. Der Aldi und Rewe vis-à-vis dem Hotel „Zur Alten Druckerei“ öffnen um sechs Uhr in der Früh! Selbst wenn man solches tatsächlich bräuchte, würde man dies in Berlin wohl vergeblich suchen.
Wird fortgesetzt.
Schlagwörter: Adel, Alfons Markuske, Fürst, Gotha, Sachsen-Coburg und Gotha, Thüringen, Wechmar