22. Jahrgang | Nummer 13 | 24. Juni 2019

Eine Geschichte des Liberalismus

von Mathias Iven

Vor mehr als zwei Jahrzehnten las der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa Edmund Wilsons Buch „Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof“. Die darin geschilderte Geschichte der Entstehung der sozialistischen Ideen ließ ihn in der Folgezeit seine eigene politische Entwicklung überdenken. Und so entstand sozusagen als Gegenstück ein Buch, das die Entwicklung der liberalen Vorstellungen nachzeichnet und deren bedeutendste Vertreter im Rahmen der historischen und gesellschaftlichen Ereignisse porträtiert.
In dem gerade einmal zwanzig Seiten umfassenden Einstiegskapitel skizziert Vargas Llosa seinen intellektuellen und politischen Werdegang, der ihn vom Marxismus über Sartres Existenzialismus hin zum Liberalismus geführt hat. Außer den seit den fünfziger Jahren gesammelten praktisch-politischen Erfahrungen beeinflussten ihn dabei Autoren wie Albert Camus, George Orwell oder Arthur Koestler. Entscheidend waren jedoch die Ideen von sieben Denkern, deren Leben und Werk er in den Mittelpunkt seines neuen Buches stellt: Adam Smith, José Ortega y Gasset, Friedrich von Hayek, Karl Popper, Isaiah Berlin, Raymond Aron und Jean-François Revel.
Bis auf Smith, dessen Buch „Der Wohlstand der Nationen“ (1776) zur Grundlage der klassischen Nationalökonomie wurde, lebten und wirkten alle im vergangenen Jahrhundert. Angefangen bei Ortega y Gasset, der 1922 die Nation als „ein anregendes Projekt eines Lebens in Gemeinschaft“ definierte, um nur wenige Jahre darauf die „zunehmende Hegemonie des Kollektivismus“ als „beängstigende Vorstellung“ zu beklagen und im Verschwinden des Individuums in der Masse einen historischen Rückschritt sowie eine ernsthafte Bedrohung für die demokratische Kultur zu erkennen. Ortegas Liberalismus, meint Vargas Llosa, sei alles in allem nur ein „partieller“, da seine Verteidigung der Individualität nicht einhergeht mit der schon von Smith geforderten Verteidigung der ökonomischen Freiheit des Marktes.
Von den drei modernen Denkern, denen Vargas Llosa in politischer Hinsicht am meisten verdankt, ist neben Friedrich August von Hayek und Isaiah Berlin vor allem Karl Popper hervorzuheben, der von sich selbst sagte: „Ich bin ein Anti-Marxist und ein Liberaler.“ In dem mit mehr als 60 Seiten umfangreichsten Beitrag des Buches geht es vor allem um Poppers 1945 veröffentlichtes Schlüsselwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, „das gehaltvollste und bereicherndste philosophisch-politische Werk des zwanzigsten Jahrhunderts“. Vargas Llosa, der Popper für „den bedeutendsten Denker unserer Zeit“ hält, sieht dessen Liberalismus als fortschrittlich, „denn er ist durchdrungen von einem tiefen Wunsch nach Gerechtigkeit, wie er manchmal fehlt bei all denen, für die Freiheit allein in der Existenz freier Märkte besteht und die dabei vergessen, dass die Freiheit der Wölfe, so die Metapher von Isaiah Berlin, der Tod der Lämmer ist“.
Die liberalistische Haltung von Isaiah Berlin „bestand vor allem in der Ausübung der Toleranz, im ständigen Bemühen um Verständnis für den ideologischen Gegner, dessen Gründe und Argumente er nachvollziehen und begreiflich machen wollte“. Zudem war Berlin imstande anzuerkennen, dass seine eigenen Überzeugungen falsch und die der ideologischen Gegner richtig waren. Für Vargas Llosa am überraschendsten ist bis heute die Tatsache, dass dieser Denker auf den ersten Blick keinen eigenen Gedanken entwickelt hat. Es gelang ihm, lautet das Fazit, „sich selbst abzuschaffen, sich unsichtbar zu machen, die Leser in der Illusion zu wiegen, die Geschichten hätten sich selbst erzeugt“.
Mit Blick auf Raymond Aron, den 1983 verstorbenen „einsamen liberalen und demokratischen Intellektuellen“, stellt sich Vargas Llosa die Frage, ob Frankreich in ihm einmal einen Vorläufer und eine Leitfigur für die sich jetzt anbahnende „verheißungsvolle neue Etappe in seiner politischen Entwicklung“ sehen wird. Gleichfalls zeitbezogen präsentiert sich auch das Werk des Journalisten Jean-François Revel, der im Spektrum des Liberalismus immer auf der Seite stand, die dem Anarchismus am nächsten kam, ohne ihm je zu verfallen. 1988 stellte er in „Die Herrschaft der Lüge“ die sich heute immer stärker manifestierende These auf: „Nicht die Wahrheit, sondern die Lüge ist die Kraft, die die moderne Gesellschaft antreibt.“ Denn trotz oder gerade wegen der Menge an Informationen werden Entscheidungen weiterhin von Vorurteilen, Leidenschaften oder Instinkten diktiert – mehr jedenfalls als von der Vernunft.
Mario Vargas Llosa hat mit seinem aktuellen Buch eine für die derzeitigen Debatten wichtige und fundierte, von persönlichen Umständen und Erfahrungen geprägte Geschichte der Vordenker des Liberalismus vorgelegt, der man einen breiten Leserkreis wünscht.

Mario Vargas Llosa: Der Ruf der Horde – Eine intellektuelle Autobiografie. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019, 315 Seiten, 24,00 Euro.