von Hermann-Peter Eberlein
„Auch wenn die meisten Hoffnungen, die die Pariser Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg hegten, teils durch die Blockpolitik, teils durch ihre eigene ideologische und moralische Ambivalenz zerrieben wurden, hat selten eine Generation so inbrünstig versucht, sich neu zu erfinden und der Welt einen neuen Zauber einzuhauchen.“ So trocken dieses Résumé klingt, mit dem Agnès Poirier den letzten Abschnitt ihres Paris-Buches beginnt, so wenig trocken liest sich die Geschichte, die sie erzählt. „An den Ufern der Seine“ heißt das Buch, aber es geht natürlich fast ausschließlich um die Rive gauche, um Saint-Germain-des-Prés; es geht um die literarischen, politischen, erotischen Konstellationen der existentialistischen Intellektuellen- und Künstlerszene unter der deutschen Besatzung und in der Nachkriegszeit bis zum Weihnachtsfest 1949, dem ersten ohne Lebensmittelrationierung. Am Anfang steht ein Akt der Bewahrung: Ende August 1939 lässt der stellvertretende Direktor der staatlichen Museen Frankreichs, Jacques Jaujard, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion 4000 Kunstwerke aus dem Louvre in Kisten verpacken und mit einem Konvoi von 203 Fahrzeugen an geheime Orte in der Provinz schaffen, wo sie sicher gelagert werden. Am Ende steht das Emporkommen einer neuen Generation, der Kinder der Existentialisten: Françoise Sagan und Brigitte Bardot, die Simone de Beauvoir später als emanzipierteste Frau Nachkriegsfrankreichs bezeichnen wird.
Trocken ist Poiriers Stil nicht, wohl aber wirkt ihre Geschichte manchmal wie eine Chronik des Lebens der bekannten Darsteller, wirkt ihr Paris wie eines, das man anhand der beigefügten Karte touristisch erkunden soll. Der suggestive Untertitel tut ein Übriges. Dabei sind die großen Gestalten nicht das Wichtige in diesem Buch, so sehr sie es auch dominieren: Wer „Les Mandarins“ gelesen hat, hat von der flirrenden Atmosphäre um Sartre, Koestler, Camus und Beauvoir zehnmal mehr aufgenommen, als jede Erzählung unserer Zeit transportieren könnte. Sartres, Beauvoirs und Camus’ große Werke sind Klassiker und Schullektüre. Annie Cohen-Solal und Olivier Todd besichtigen in ihren monumentalen Biographien über die beiden Nobelpreisträger eine ganze Epoche.
Nein, es sind die Rand- und Nebenfiguren, die Poiriers Werk spannend und trotz alles allzu Bekannten wichtig machen. Da ist der deutsche Kunsthistoriker Wolff-Metternich, ein Aristokrat, dem die Kulturgüter Frankreichs unterstellt werden und der beinahe erleichtert wirkt, als er erfährt, dass der Louvre leer ist. Da ist noch ein Deutscher, Gerhard Heller, der in Toulouse und Pisa studiert hat, Hitler abstoßend findet und nun für die Literaturzensur zuständig ist: In einem Atemzug liest er das Manuskript des „Ėtranger“ durch, segnet es ab und verspricht Gallimard, bei der Papierbeschaffung behilflich zu sein. Da ist der Kollaborateur Robert Brasillach, der, zum Tode verurteilt, den Soldaten seines Exekutionskommandos „Nur Mut!“ zuruft und mit einem „Vive la France“ auf den Lippen stirbt. Da ist die von Louis Aragon, der sich der Kommunistischen Partei verschrieben hat, organisierte Kunstausstellung im Februar 1946, die die abstrakte Kunst ignoriert, weil sie nicht linientreu ist. Da ist Janet Flanners Blick auf Kellerlokale wie das Tabou, „von denen ein paar noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammen und immer noch keine Lüftung haben“. Da ist die Anekdote, wie der Titel von „Warten auf Godot“ entstand: Beckett, eifriger Kunde der Pariser filles de joie, „suchte häufig die Rue Godot de Mauroy im 9. Arrondissement auf, wo es zahlreiche Prostituierte gab. Eines Tages fragte ihn ein junges Mädchen, ob er seine Dienste benötige; als er ihr Angebot ablehnte, erwiderte sie sarkastisch: ‚Ach ja? Und auf wen warten Sie? Auf Godot?‘“ Und da ist das Befremden auch der intellektuellen Besucher aus den USA über die fröhliche und manchmal schmerzliche Promiskuität und sexuelle Libertinage.
Poirier hat gut daran getan, ihre Geschichte 1940 beginnen zu lassen und nicht mit der Befreiung 1944. Die existenzialistische Befreiung von allen Normen nämlich war eine Frucht nicht der Befreiung, sondern der Unterdrückung. Mit den Worten Sartres: „Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung“, und „Da das Nazigift bis in unser Denken eindrang, war jeder richtige Gedanke eine Eroberung […] Die oft grauenhaften Umstände unseres Kampfes versetzten uns endlich in die Lage, ungeschminkt und unverhüllt jene zerrissene, unhaltbare Situation zu durchleben, die man Conditio humana nennt.“ Unwillkürlich muss ich bei dieser Analyse an Hegel denken, wie er mit den letzten Manuskriptseiten seiner Phänomenologie aus dem besetzten Jena flieht – vielleicht sind Zeiten existentieller Bedrohung für eine radikale Erneuerung des Denkens zuträglicher als solche bequemen Friedens.
Von den beigegebenen Fotografien ist die des Zimmers im Hôtel La Louisiane, das nacheinander Beauvoir, Sartre und Juliette Gréco bewohnt haben, atmosphärisch ungemein dicht: Bett, Schreibtisch und das geöffnete Fenster mit Blick auf das gegenüberliegende Haus; gerade in seiner Leere vermittelt dieses Bild etwas vom Pariser Stil als einer Lebensform: „eine Art zu leben, eine Art zu schreiben, eine Art, die Dinge zu betrachten, und eine kulturelle Neugier und ein Appetit, der nicht akademisch war.“ Die übrigen Bilder sind größtenteils bekannt, das der altgewordenen Gréco im Gespräch mit der Autorin wirkt peinlich.
„Paris ist wie ein magisches Schwert in einem Märchen“ schrieb das Life Magazine Anfang September 1944, „eine glänzende Macht in den Händen, in die es gehört, in anderen nur Tand“. Wem gehört Paris heute? Macron? Den Gelbwesten? Den Eliten? Den Touristen? Der Erinnerung?
Agnès Poirier: An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940–1950, Klett-Cotta, Stuttgart 2019, 508 Seiten, 25,00 Euro.
Schlagwörter: Agnès Poirier, Existentialismus, Hermann-Peter Eberlein, Paris