22. Jahrgang | Nummer 10 | 13. Mai 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Edelstahl-Küche und Testosteron-Tollhaus …

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Eine blitzende Küchentheke; Chromstahl. Bepackt mit feinsten Zutaten, alles Bio, versteht sich. Das Setting von Nina Wetzel in der Schaubühne Berlin stellt sofort klar, wo wir uns befinden in Maja Zades neuem, unaufgeregt aufregendem, süffig amüsantem, aber auch ungeheuer erschreckendem Stück „Abgrund“: Es ist der urbane, liberale, durch Erbschaft und Jobs im akademischen oder irgendwie kreativen Betrieb wohlsituierte Mitte-Dreißig-Mittelstand mit Eigentumswohnung.
Bettina und Matthias, verheiratet, Tochter Pia fünf, Tochter Gertrud ein halbes Jahr alt, stehen dort an ihrer feinen Kochzeile, um ihre eingeladenen Freundschaften kulinarisch zu verwöhnen. Lässige Feierabendparty auf Manufactum-Küchenhockern. Und zwischen vielen „Hmmmms“, „Cools“, „Super“ und fleißig entkorkten Weinflaschen wird gekichert, geplappert, gelästert, geschimpft und gelegentlich gezankt und sogar politisiert. So, wie überall in solchen Gesellschaften bei solchen Gelegenheiten. Maja Zade bringt es präzise auf den Punkt.
Ihr erstes Stück „Status quo“, eine scharfe Geschlechterclinch-Satire, hatte kürzlich erst Schaubühnen-Uraufführung unter der Regie von Marius von Mayenburg. Und auch jetzt wieder brilliert diese subtil beobachtende, sarkastisch analysierende Autorin als bewundernswerte Meisterin im flüssigen Dialogschreiben und genauen Figurenzeichnen. Schier atemberaubend perfekt trifft sie Sprache und Sound unserer Zeit – auch in seiner kompletten Fragwürdigkeit, ja Unmöglichkeit.
Geradezu unglaublich wogt und wabert denn am Küchentisch von B&M das Weltläufige und Kleinkarierte, das Tolerante, Spießige, Schlaue, Kluge, Dumme und Bornierte, das großartige Wagen und Wollen und dann wieder Abwinken, das ausgestellte Gutmenschentum, der versteckte rohe Egoismus, das angestrengt Korrekte und befreiend Inkorrekte. Und fügt sich zu einem pittoresken Panorama zeitgenössischer Porträts aus dem so genannten, hochmütig belästerten Bio-Biedermeier, das wir nur allzu gut kennen, weil wir es liebend gern tangieren – oder gleich ganz dazu gehören. Schöner Spiegel!
Es gibt hierzulande kaum einen Regisseur wie Thomas Ostermeier, der ein solches Wallen und Wabern wirklich wie aus dem Augenblick geboren und total selbstverständlich auf die Bühne zu zaubern imstande ist. Und doch immer wieder die Kratzer zeigt, die Risse, die ätzenden Flecken auf dieser Oberfläche. Freilich mit einer Schar großartiger, also Schaubühnen-Schauspieler: Christoph Gawenda, Moritz Gottwald, Jenny König, Laurenz Laufenberg, Isabelle Redfern, Alina Stiegler (in alphabetischer Reihe, sie alle sind hinreißend und genau in ihrem jeweiligen, aber auch darin allemal nicht fest getackertem Gestus).
Die Schaubühne ist längst wieder – wie einst in den nostalgisch beschworenen Hoch-Zeiten – ein sensationelles Schauspieler-Theater. Auch wenn das unverständlicher Weise gern abschätzend beiseite getan wird. Bravo Schaubühne! Spielerisch wie rein technisch ein Klasse-Institut! Muss mal gesagt sein.
Doch Maja Zade belässt es im „Abgrund“ natürlich nicht bei dieser Art Versuchsanordnung eines gesellschaftstypischen Tingeltangels, das für sich genommen als oszillierendes Sittenbild schon abgründig genug ist. Die erfahrene Dramaturgin sorgt noch für einen geradezu infernalischen Knall; eine ungeheuer dramatische Pointe: Während die kauende Bürgerlichkeit sich amüsiert, schnappt sich die fünfjährige Pia ihre sechs Monate alte Schwester Gertrud und wirft sie aus dem Fenster vom Kinderzimmer. Tot. Warum? Tja… Ein Defizit an Aufmerksamkeit? Oder?
Wie auch immer: Interessant ist vielmehr, wie die angeschafft souveräne, feinfühlig und gebildet sich gebende Humanisten-Truppe am kuscheligen Hochglanz-Tresen mit dem plötzlichen Einbruch der absoluten Katastrophe umgeht. Der (hier?) sinnlose Tod kracht ‑ einfach so ‑ ins feine Essen. Und man reagiert völlig hilflos; verständlich. Sogar schäbig. Inhuman. Eigentlich unbürgerlich, also asozial – unverständlich, aber durchaus realistisch.
Licht aus und Schluss mit dieser unterhaltsamen, am Ende uns den Hals umdrehenden Ostermeier-Uraufführung. Der Regisseur wirft uns dieses giftige Ding erst gelassen vor die Füße, dann donnert er es hammerhart ins Hirn. Erst geht es dahin wie eine Komödie, dann das weltenstürzende Finale. Versackend und verreckend im elend Menschlichen. Mit einem finalen, selbstredend teuren Marken(!)-Whisky in der Hand als Krücke für die himmelschreiende Hilflosigkeit der – momentan? – Verunsicherten, aber eben nicht wirklich Verzweifelten, sondern dem kindsmörderischen Horror bloß Zuschauenden. Das Unglück traf ja Gott sei Dank nicht deren eigenen Lebensverhältnisse. Anteilnahme heuchelnd machen sie sich aus dem Staub. Tja…
Bleibt die Frage: Was wäre zu tun oder zu lassen, versackt plötzlich der Boden seliger Gewissheit unter den Füßen bei einem immerhin allgegenwärtigen Schwerthieb des Daseins?
Wir sitzen da, erschüttert und stumm.

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Klare Ansage gleich am Anfang. Nacht im Nirgendwo. Nur ein Schlagzeug grollt von fern, donnert näher, explodiert krachend. Und schon steht er im Berliner Ensemble vor uns, nackt bis auf die Soldatenstiefel, blutüberströmt: Heerführer Othello, Sieger der Seeschlacht, verheiratet mit Desdemona. Und schon stürzt sie herein, die hohe Tochter Venedigs, nackt, weiß angestrichen, die Farbe tropft ab, als käme sie aus einem Bad mit Milch. Beide stürzen aufeinander, verkrampfen geil. Orgasmen, und er würgt sie zu Tode. ‑ Abgang der beiden. Tolle Choreographie, starke Performance. Die Kurzfassung des Shakespeare-Thrillers, wie Regisseur Michael Thalheimer ihn sieht. In den restlichen 100 Minuten konzentriert er sich auf die Demonstration der Intrige: Wie das Beta-Männchen Jago den Alpha-Kerl Othello eifersüchtig macht bis hin zum finalen Würgemord – dem wir eingangs, sozusagen in der Ouvertüre, schon einmal beiwohnten. Also noch einmal Gier und Kampf verkrampft, zur Skulptur erstarrt im Schönheit und Schrecken, zum Warnbild vor den ungezügelten Trieben auf Lust und auf Tod.
Dabei war alles von Anfang an klar: Jago hat ein sehr leichtes Spiel. Weil Othello anders ist als die andern, nämlich schwarz (obgleich rot angestrichen). Und weil in einer von Neid und Rassismus geprägten Mehrheitsgesellschaft die Liebe eines Schwarzen zu einer Weißen bloß ein Irrtum sein kann, glaubt das auch Othello. Dieser Glaube ist der tödliche Keim in seiner Ehe mit Desdemona. Und es braucht fast nichts, dass dieser Keim geschwind aufgeht – der Vernichtung entgegen.
Die ist in Thalheimers Inszenierung gleich zu Beginn gesetzt. Das Drama der Liebe, das Drama eines zum Außenseiter Stigmatisierten, das Drama der unerfüllten Leidenschaften der anderen Figuren, Shakespeares komplexes Geflecht der Gefühle, der Ratio und des Wahns, es ist reduziert auf den gnadenlosen Kampf zweier von Wut, Hass, Missgunst kranker Männer, die sich verachtungsvoll anspucken.
Es ist der Kerle-Klassiker: Beta-Tierchen gegen Alpha-Tierchen; Jago (Peter Molzen) gegen Othello (Ingo Hülsmann). Um es zuzuspitzen, der Thalheimer-„Othello“ performt – immer schön mit Brüll-Soli an der Rampe – ein strukturelles Problem: Dem Manne überhaupt eigen seien allein zwei Triebe, der zur Macht, der zum Sex. Und so geht – unterm Tamtam der Trommeln – die Welt zugrunde.
Mag man so sehen; so plakativ. Freilich, dazu passend sind die dazu gehörigen Frauen, sind Sina Marten als Desdemona und Kathrin Wehlisch als Jagos Emilia gleichfalls reduziert auf bloß blind und blöd den Herren ergebene Weiber. Und das dem mörderischen Ende zueilende Intrigentum wird, die wuchtigen Text-Stellen entsprechend heraus präpariert, wie ein fliegender Comic aufgeblättert. Nicht ohne Komik und zunehmend einer irren Schlacht im Testosteron-Tollhaus gleichend. Eine maskuline Psychopathen-Show. Dazu im Hintergrund kaum verständlich grummelnd ein gesichtsloser Chor mit Ku-Klux-Klan-Mützen auf den Köpfen. Aber immer mit Schlagzeug (großartig: Ludwig Wandinger / Johann Gottschling).
Thalheimers vor kurzem erst bei „Macbeth“ wiederholt erprobte, berühmt artifizielle Reduktions-Kunst versagt diesmal ihre Wirkmacht. Sie langweilt zunehmend. Weil die Konfliktlage so simpel, so vorhersehbar in ihrer Schwarz-(oder Rot-)Weiß-Malerei, so arm an Erkenntnis ist. Da verlagert sich das Interesse schnell weg von Shakespeare und hin zum Technischen, zur Stimm- und Körperartistik von zwei tollen Schauspielern: Moltzen & Hülsmann.