von Clemens Fischer
Es gibt Filme, die sind wie Kreuzberger Nächte („Erst fangse janz langsam an, aber dann, aber dann …“), und in die sollte man folglich unbedingt nur in besonders wachem Zustand gehen. Anderenfalls könnten einem die ruhigen, wenig spektakulären und schon gar nicht actionlastigen ersten vier Fünftel der Handlung die Augen zuziehen – mit der Konsequenz, dass man „aber dann, aber dann …“ einfach verpennt.
Geradezu prototypisch für diese Art Film ist „Under the Tree“ des Isländers Hafsteinn Gunnar Sigurðsson. Und der hat es überhaupt nicht verdient, dass der Rezensent dem Opus an einem wettermäßig zugegebenermaßen kaiserlichen Frühlingssamstag in einer Nachmittagsvorstellung lediglich zu zweien beiwohnt: nämlich zusammen mit dem Film und nur noch mit sich selbst. Um eine Händel-Anekdote zu adaptieren. (Der ebenso epochale Komponist wie Gourmand hatte in einem englischen Lokal einen Truthahn geordert und die Frage des Kellners, für wie viele Personen eingedeckt werden solle, mit dieser Antwort beschieden: „Wir sind zu zweit – der Truthahn und ich.“)
Doch zum eigentlichen Werk.
Die Hölle, das sind immer die anderen, und da machen Nachbarfamilien in Reihenhäusern keine Ausnahme. Letztere wirken auf Island optisch zwar durchaus gefälliger als für diese Behausungsform hierzulande gewohnt, doch nur auf den ersten Blick, denn im zentralen Charakteristikum gibt es keinen Unterschied: in der bei Reihenhäusern offenbar unvermeidbaren stereotypen Langweiligkeit.
Da kann ein ausladender Baum in einem der zugehörigen schachbrettgroßen Gärtlein schon mal zum alttestamentarischen („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) Problem werden. Umso eher, wenn man vom Nachbarn nicht durch einen (deutschen) schmiedeeisernen oder Maschendrahtzaun geschieden ist, sondern nur durch eine von Getier überwindbare Hecke.
Animositäten unter Nachbarn entwickeln sich im Übrigen in aller Regel zunächst eher unmerklich – durch Rasenmähen zur Unzeit, durch Hundeschiss von Nachbars Wuff auf dem eigenen Grün und andere – für sich genommen – belanglose Vorfälle. Gegenseitige Nicklichkeiten im Alltag laden das Konfliktpotenzial ganz allmählich, fast unmerklich bis zu einer kritischen Masse auf, so dass dann ein einziges Ereignis eine Eskalation kaskadierender Schläge und Gegenschläge in Gang setzt, die schließlich in eine finale Katastrophe münden. Mord und Totschlag inklusive.
Die Annalen der in Gerichtskolumnen und -berichten nachlesbaren juristischen Nachspiele von Nachbarschaftsstreitigkeiten sind nicht arm an entsprechenden Fällen.
Sigurðsson nimmt uns in dieser Hinsicht auch für Island jede Illusion!
Was wäre sonst noch anzumerken, ohne den Film – wie heute in Besprechungen allgemeine Unart, die ich nicht müde werde zu geißeln – soweit auszuerzählen, dass ein Gang ins Kino sich eigentlich erübrigt? Vielleicht dieses:
- Von der eigenen Partnerin bei autoerotischen Manipulationen ertappt zu werden, ist an sich schon grottenpeinlich. Wenn man dabei aber auch noch vor dem Laptop sitzt, auf dem ein Porno läuft, dann ist Absolution bereits so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Sie ist jedoch völlig ausgeschlossen, wenn man in dem Porno auch noch selbst agiert. Mit einer anderen Dame.
- Wenn man schon auf Nachtwache schläft, sollte man sich besser keine Ohrhörer zur Berieselung mit was auch immer einstöpseln. Ansonsten könnte ein Filmtitel wie „Under the Tree“ von einer geradezu knochenbrecherischen Wortwörtlichkeit sein.
- Chorgesang ist ein Wert an sich. Hilft aber nicht über alles hinweg.
In seiner allerletzten Einstellung beweist der Regisseur im Übrigen auf sehr überzeugende Art und Weise, dass eine sehr subtile Art von makabrem Humor anglo-amerikanischer Prägung seit dem Hinscheiden von Roald Dahl und Stanley Ellin keineswegs ausgestorben ist.
Fazit: Warum Menschen Island für idyllisch halten, versteht, wer dafür schon bisher wenig Veranlassung sah, nach diesem Streifen mit Sicherheit noch weniger. Welche Wirkung der Film jedoch auf erklärte Fans des Felseneilands hat, wäre ein spannendes Thema für eine Doktorarbeit!
„Under the Tree“ – Regie und Drehbuch (Mit-Autor): Hafsteinn Gunnar Sigurðsson. Derzeit in den Kinos.
Schlagwörter: Clemens Fischer, Island, Under the tree