von Arno Widmann
Die schwedische Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg wurde am 3. Januar 2003 geboren. Das amerikanische Magazin Time zählt sie zu den einhundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Jahres 2019. Das ist ein guter Grund, diese Listen in die Tonne zu treten. Greta Thunberg ging am ersten Schultag nach den Sommerferien des vergangenen Jahres, am 20. August 2018, nicht in die Schule, sondern setzte sich mit einem Schild „Schulstreik für das Klima“ vor den Schwedischen Reichstag in Stockholm.
Die schwedischen Medien reagierten sofort, von Greta Thunberg versandte Fotos taten ein Übriges. Die taz berichtete als erstes deutsches Medium schon am 27. August über die 15-jährige Protestlerin. Bis zum 9. September stand sie jeden Tag vor dem Reichstag. Danach nur noch jeden Freitag. Die Fridays for Future waren geboren. Die Bewegung breitete sich weltweit aus. Time hat also recht: Greta Thunberg ist eine der einflussreichsten Persönlichkeiten. Leider ist aber ihr Einfluss auf das reale Geschehen, auf die Klimapolitik der Industriestaaten, Europas oder auch nur Schwedens gleich null.
Das ist unser Unglück. Unser selbstverschuldetes Unglück. Wir könnten Bescheid wissen. Spätestens seit James E. Hansen am 23. Juni 1988 vor einem Ausschuss des US-Senats auftrat und erklärte, die globale Erwärmung gehe mit 99-prozentiger Sicherheit nicht auf das Konto natürlicher Schwankungen, sondern sei das Produkt vom Menschen freigesetzten Kohlendioxids und anderer Treibhausgase. Seitdem haben wir den Ausstoß nicht etwa gedrosselt, sondern um 68 Prozent gesteigert. Wind- und Sonnenenergien sind nicht dabei, die fossilen Brennstoffe zu ersetzen, sondern sie ergänzen sie, feuern noch mehr Energie in ein tödliches Wachstum.
Die Klimakrise konfrontiert uns mit einem Kernproblem unserer Spezies: Theorie und Praxis. Wie schaffen wir es, das für richtig Erkannte auch zu tun? Wie kommen wir heraus aus dem Gefühl der Hilflosigkeit, aus unserer Isolation? Wie kommen wir in Schwung? Wie können wir andere bewegen? Wir brauchen die Isolation, die Konzentration, um herauszufinden, was wir für richtig und für falsch halten. Wir müssen Informationen vergleichen, dafür brauchen wir Zeit und die Fähigkeit zur Besinnung. Die Kraft, eine eigene Meinung zu entwickeln, ist nichts anderes als das Vermögen, „ich“ zu sagen. Es geht dabei also nicht nur um das rationale Abwägen von Argumenten, sondern auch um die Entwicklung emotionaler Stärke, um die Fähigkeit, sich selbst zu positionieren in der Welt.
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Greta Thunberg war in die fünfte Klasse gekommen, da hörte sie auf, Klavier zu spielen, sie sprach nicht mehr, und sie hörte auf zu essen. Die Mutter Malena Ernman, ein berühmter Mezzosopran, der auch in Berlin und Frankfurt am Main auftrat, schreibt in dem Buch „Szenen aus dem Herzen“, das an diesem Dienstag erscheint: „Unsere Tochter verschwindet in eine Art Dunkelheit und hört quasi auf zu funktionieren.“ Greta hat das Asperger-Syndrom, bei ihrer jüngeren Schwester Beata wird ADHS mit Zügen von Asperger, OCD und eine Störung mit oppositionellem Trotzverhalten diagnostiziert.
Greta erzählt, sie habe nicht glauben können, wie weit wir schon in der Klimakatastrophe steckten, dann wäre das doch das einzige Thema, und es würden alle denkbaren Notbremsen gezogen werden. Aber kaum jemand spreche darüber, und der Treibhauseffekt nehme zu. Die Mutter erwidert: „Ihr werdet diejenigen sein, die die Welt retten.“ Greta ist wütend. So leicht will sie ihre Mutter und die Generation der Älteren nicht aus der Verantwortung entlassen.
„Szenen aus dem Herzen“ ist ein ebenso empfindsames wie kämpferisches Buch. Malena Ernman hat es zusammen mit ihren Töchtern Greta und Beata und ihrem Ehemann Svante Thunberg geschrieben. Und zwar bevor Greta als Klimaschützerin berühmt wurde. Greta Thunberg erklärt: „Ich denke, wenn ich kein Asperger hätte, wäre das hier nicht möglich gewesen.“ Sie ist wohl der Auffassung, dass sie ohne ihre Empfindlichkeit, ohne ihre Versenkung ins eigene Selbst viel zu abgelenkt gewesen wäre, um sich so auf die Klimakatastrophe konzentrieren zu können.
Ihre Mutter spricht in einem Kapitel von „ausgebrannten Menschen auf einem ausgebrannten Planeten“. Das ist das Thema des Buches. Wir können dankbar sein für die Klimakatastrophe. Denn an ihr zeigt sich in einem riesigen Menetekel, was grundsätzlich falsch ist an unserer Haltung der Welt, dem Planeten, den anderen Kreaturen und auch uns selbst gegenüber. Wir täten gut daran, die sich rapide ausbreitenden psychischen Erkrankungen nicht an Fachärzte abzuschieben, sondern sie zu lesen als verzweifelte Abwehrreaktionen auf eine immer schwerer zu ertragende Welt, in der schon Kinder ein Burn-out ereilt.
Die Mutter schildert die immer wieder zusammenbrechenden und ausrastenden Töchter, zeigt sich in ihrer Hilflosigkeit. Sie weiß, dass Zurückbrüllen nicht hilft, sondern schadet. Dennoch brüllt sie immer mal wieder zurück. Man begreift, dass das für richtig Erkannte zu tun im Umgang mit dem Nächsten kaum leichter ist als in der Klimapolitik.
Mit einer Diagnose allein ist noch nicht viel gewonnen. Wir handeln nun mal, wie wir handeln können, gefangen in unseren eigenen, uns nur selten bewussten Prägungen. Die Mutter erkennt in bestimmten Grimassen ihrer Tochter die ihres Vaters wieder, und bei der Beschäftigung mit den Leiden ihrer Töchter wird ihr klar, dass sie selbst allein durch das Singen aus ihrem Schweigen fand. Sie entdeckt sich selbst erst mit 45 in den anderen, die ihre Kinder sind. So begreift sie, dass die beiden ihre eigenen Wege aus ihren sich verschottenden Ichs finden müssen. Diese Verschränkung von Krankheit und Leistung zu zeigen, gehört zu den großen Schönheiten des Buches. „Ich will kein Inmich mehr sein“, schrieb 1993 der Berliner Autist Birger Sellin. Menschen mit Asperger-Syndrom leben den von jedem von uns erfahrenen Konflikt zwischen Innen- und Außenwelt drastischer. Sie können daran zerbrechen.
„Ich denke, wenn ich kein Asperger hätte, wäre das hier nicht möglich gewesen“, erklärt Greta Thunberg. Das stimmt auch ganz praktisch. Nur weil das Asperger-Syndrom an ihr diagnostiziert worden war, konnte sie der Schule fernbleiben, ohne dass die Behörde durchdrehte. Ihre Erkrankung ermöglichte ihr nicht nur ihre Erkenntnis, sie verschaffte ihr auch die Möglichkeit einer Praxis, die kein anderer Mitschüler hatte. Jeder andere, der wochenlang vor dem Reichstag Stellung bezogen hätte, wäre von Beamten in die Schule abtransportiert worden. Ihre Erkrankung war auch ein Schutz.
Das war eine neue Erfahrung. Denn Greta Thunberg war, bevor sie ein Idol wurde, auf dem Schulhof gemobbt worden. Schon darum kann sie nicht daran glauben, dass die Rettung des Planeten eine Generationsfrage sein soll. Sie kennt ihre Altersgenossen nur zu gut. Jeder, der einen Teenager am Esstisch hatte oder hat, weiß aber auch, dass Greta Thunberg kein Einzelfall ist.
Sie sitzen da und erzählen einem, was in den Schlachthöfen, was schon auf dem Transport dorthin mit den Tieren passiert, deren Überreste gerade auf dem Tisch liegen. Sie ekeln sich vor einer Welt, in der alles vernichtet wird, um einen Bruchteil der Menschheit so zu ernähren, wie es vor hundert Jahren den Reichsten nicht möglich war. Sie begreifen nicht, wie ihre ja noch immer geliebten Eltern offenen Auges den „Völkermord an der Kreatur“ hinnehmen für ein Steak. Wir sind in ihren Augen Mitglieder einer den Planeten plündernden Verbrecherbande.
Irgendwann kommt der Moment, da wir begreifen, dass nicht die aufgebrachten Teenager die „Inmichs“ sind, die nicht begreifen, was in der Welt geschieht, sondern dass wir zu „Inmichs“ regrediert sind, die nicht mehr herauswollen aus ihrer Haut. Mit unserer Untätigkeit besorgen wir das Geschäft eines winzigen Teils der Menschheit, die sich längst daran gewöhnt hat, dass sie aus jedem Quadratzentimeter von Mutter Erde Profit schlagen kann. Greta Thunberg wurde zu Recht zum Vorbild. Sie hat es geschafft, aufzustehen, herauszugehen, aus ihrer Haut zu fahren. Sie tut das mit einer bewundernswerten Hartnäckigkeit.
Ihr klarer Verstand nimmt auf, was jeder von uns auch aufnehmen könnte. Was wir aber oft schnell wieder liegenlassen, um uns dem nächsten Thema zuzuwenden. In „Szenen aus dem Herzen“ lesend, erinnere ich mich an die Aufregung im Sommer 2017 über einen Artikel in der Zeitschrift Nature. Darin hieß es, die Menschheit hätte gerade noch drei Jahre Zeit, „die Kurve der Kohlendioxid-Emissionen nach unten umzulenken“. Nichts ist geschehen seit damals. Nichts jedenfalls, das erkennen ließe, dass wir die Gefahren des Klimawandels ernst nähmen.
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Europawahlen stehen bevor. Nicht eine der 41 in Deutschland kandidierenden Parteien nennt den Kampf gegen den Kohlendioxidausstoß als ihr Hauptthema. Greta Thunbergs Einfluss ist gering. Kaum größer als meiner oder Ihrer. Also könnten wir auch aufstehen und etwas tun. Ich habe keine Entschuldigung dafür, dass ich es nicht tue.
Wir Nicht-Demonstranten schämen uns ein wenig vor den Kindern und Enkeln an unseren Esszimmertischen. Wir neigen dazu, überheblich auf ihre Kritik zu reagieren. Das ist dumm. Wie Überheblichkeit es immer ist. Wir sollten zuhören, und wir sollten die 92 kleinen „Szenen aus dem Herzen“ lesen, die uns zeigen, dass wir 40 Jahre nach Gründung der Grünen weiter den Planeten plündern, das Leben auf ihm und in uns zerstören.
Davor wenigstens nicht mehr die Augen zu verschließen, wäre ein erster von vielen notwendigen Schritten.
Berliner Zeitung, 30.04.2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.
Schlagwörter: Arno Widmann, Europawahlen, Fridays for Future, Greta Thunberg, Klimakrise, Klimapolitik