22. Jahrgang | Nummer 8 | 15. April 2019

Thomas Mann in Weimar

von Erhard Crome

Das 19er Jahr ist voller Jubiläen: 1919 Weimarer Reichsverfassung und Versailler Friedensvertrag, 1939 Überfall Deutschlands auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkrieges, 1949 Gründung der beiden deutschen Staaten, 1989 Fall der Mauer und Öffnung des Weges zur deutschen Vereinigung. Ich halte ein weiteres Jubiläum für bemerkenswert, die Deutschland-Reise Thomas Manns 1949.
Mann, den die bürgerliche Geschichtswissenschaft immer wieder gern als „Nur-Künstler“ etikettiert, dem politisches Engagement eher fremd gewesen sei, hatte bereits frühzeitig ein Bekenntnis zur Demokratie der jungen Weimarer Republik abgegeben und dies mit einer ganz entschiedenen Ablehnung des Faschismus im allgemeinen und des „deutschen Faschismus“ im besonderen verbunden. Zum deutschen Faschismus betonte Mann, „dass er eine ethnische Religion ist, […] völkisches Heidentum, Wotanskult, – feindlich ausgedrückt (und wir wollen uns feindlich ausdrücken) romantische Barbarei“. Besonders bedeutsam hier die Nebenbemerkung in der Klammer: Wir wollen uns – das heißt Mann will sich – gegenüber dem Faschismus „feindlich“ ausdrücken. Der hatte das auch so verstanden.
Im Februar 1933 war Thomas Mann auf einer Vortragsreise mit anschließendem Erholungsaufenthalt in der Schweiz. Nach dem Reichstagsbrand warnten die Kinder Erika und Klaus Mann die Eltern dringend, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Thomas Mann blieb in der Schweiz. Sein Vermögen, sein Haus in München mit Bibliothek, Kunstwerken und Mobiliar wurden von den Nazi-Behörden konfisziert, seine Automobile der SA zum „Verbrauch“ übergeben. 1936 erhielt er die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und wurde vom Nazi-Regime ausgebürgert. 1938 siedelte er in die USA über, lebte ab 1940 in Kalifornien und erwarb 1944 die US-Staatsbürgerschaft.
Nach Kriegsbeginn sah sich Mann in der Verantwortung, das ihm Mögliche gegen den Krieg, gegen den Hitler-Staat und für den Sieg der Alliierten zu tun. Im Jahre 1940, als Großbritannien allein gegen Deutschland Krieg führte, während die Sowjetunion noch vertraglich mit Deutschland verbunden war und in den USA auf ein Draußenbleiben gehofft wurde, fragte die britische BBC Thomas Mann, ob er bereit sei, in regelmäßigen Abständen an die deutsche Bevölkerung Ansprachen zu richten und eine Einwirkung auf die Stimmung in Deutschland zu versuchen. Er sagte zu. So entstanden 55 Rundfunkreden, die von Oktober 1940 bis 10. Mai 1945 gehalten wurden, mit scharfen Analysen und Aufrufen an die deutsche Bevölkerung, sich gegen das Regime zu stellen und den Krieg zu beenden.
Nach dem Sieg über Hitler-Deutschland wurde er von deutschen Intellektuellen aufgefordert, in sein Heimatland zurückzukehren, andere warfen ihm sein Engagement auf Seiten der Alliierten vor, schließlich kam es zu öffentlichem publizistischen Streit mit jenen in Deutschland, die für sich die „innere Emigration“ in Anspruch nahmen. Mann resümierte für sich: „Diese ganze ‚Innere Emigration‘ kann mir, offen gestanden, gestohlen werden. Alle haben sie mitgemacht, alle profitiert, alle an den Bestand des Scheußlichen geglaubt, das sie nie wirklich als scheußlich empfunden und verabscheut haben.“ An eine Rückkehr war nicht zu denken. Eine Reise nach Deutschland 1947, zu der er eingeladen war, vermied er.
Zum Goethejahr – im Jahre 1949 war Goethes 200. Geburtstag – hatte er Einladungen nach Frankfurt am Main und nach Weimar. Angenommen hatte er beide, was ihm nicht nur in den USA, sondern auch in Westdeutschland übel genommen wurde. In seiner Goetherede, die er am 25. Juli 1949 in der Frankfurter Paulskirche hielt, betonte er, dass „die Umstände der Genesung Deutschlands“ seinen „Weg nach Europa“ erschweren. „Trümmer umgeben mich, welche die nationale Katastrophe sinnfällig zurückgelassen, und ich finde das Land zerrissen und aufgeteilt in Zonen der Siegermächte […]. Eines Tages muss und wird es enden. Mir aber, wie ich hier stehe, gilt es schon heute nicht.“ Hier sah er sich in der Rolle eines Repräsentanten des einigen Deutschlands gegenüber der aktuellen Zonierung. Und er setzte fort: „Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem, und keinem Besatzungsgebiet.“ Da die Protagonisten der sich in „Trizonesien“ gerade gründenden BRD sich als das „eigentliche“ Deutschland ansahen, nahmen sie Mann übel, dass er auch in das uneigentliche Deutschland, in die Ostzone fuhr. Er tat das dennoch.
Auf einer Pressekonferenz in Frankfurt entgegnete er den Vorwürfen der antikommunistischen „Gesellschaft zur Bekämpfung der Unmenschlichkeit“ mit dem Satz: „Das Entscheidende ist, dass mein Besuch dem alten Vaterlande als Ganzem gilt und dass es mir unschön schiene, mich von der Bevölkerung der Ost-Zone fern zu halten, sie gewissermaßen links liegen zu lassen.“ Am 31. Juli hielt Mann in Weimar dieselbe Rede wie in Frankfurt, ergänzt um eine Passage, „dass Freiheit, Recht und die Würde des Individuums“ schwer erkämpfte und „unveräußerliche Errungenschaften der Menschheit“ sind.
Schon auf der Heimreise nach Kalifornien begann Thomas Mann einen „Reisebericht“ zu schreiben. Er würde, betonte er, „heute in Deutschland […] ungefähr leben […] wie um 1930: freundlich angesehen von einer gebildet-einsichtigen Minorität, deren Zahl sich durch die politischen Erfahrungen vielleicht etwas vergrößert hat, gehasst und als undeutsch, antideutsch, als Vaterlandsverräter beschimpft von breiten, verstockten, zu einem dreisten Nationalismus längst zurückgekehrten Massen“.
Ausführlich schrieb er über seine Eindrücke im Osten. Auch sein Abscheu vor dem Faschismus habe ihn nicht zum Kommunisten gemacht. „Ich bin fremd dem totalitären Staat, seiner Jakobiner-Tugend, seinen Geheimpolizei-Methoden, seinem humorlosen Optimismus, seiner Verpönung bourgeoiser Verfeinerung und all dessen, was er dekadent, volksfremd und formalistisch nennt.“ Gleichwohl hielt er einen interessanten Eindruck fest, den vom unterschiedlichen Stand von Künstlern und Schriftstellern in den beiden Systemen. „Ein Problem war für mich die beste Verwendung der 20.000 Ostmark, die den materiellen Wert des Weimarer Goethe-Preises darstellen. Ich habe sie dem Wiederaufbau der Herder-Kirche zugewendet – ein Entschluss, der vielleicht nicht ganz nach dem Sinn der Kommunisten war. Es hätte aber wenig Sinn gehabt, wie in Frankfurt, eine Stiftung für bedürftige Schriftsteller aus dem Gelde zu machen, denn für geistige Arbeiter, wenn sie nicht geradezu stören, sorgt in der Ostzone der Staat, und die Prominenten unter ihnen werden gehegt und gepflegt. Der russische Kommunismus weiß die Macht des Geistes wohl zu schätzen, und wenn er ihn reglementiert und in den Schranken des Dogmas hält, so muss man eben darin einen Beweis dieser Schätzung sehen. Ohne sie würde er sich weniger um ihn kümmern.“
Er hatte auch die politischen Vertreter, mit denen er es zu tun bekam, sehr genau beobachtet: „Ich habe unter den kommunistischen Offiziellen der russischen Zone manche Figur gefunden, der angestrengt guter Wille und reiner Idealismus an der Stirn zu lesen waren.“ So schrieb er über Paul Wandel, 1949 Präsident der „Deutschen Verwaltung für Volksbildung“ in der Ostzone, der bei dem extra veranstalteten großen Bankett in Weimar die Rede gehalten hatte: „Wandel, ein ernst und leidend aussehender Mann, der täglich achtzehn Stunden arbeitet, erklärte in seiner an mich gerichteten Ansprache, er wolle ausnahmsweise einmal nicht von mir reden, sondern mir berichten, was in der Ostzone während der letzten Jahre unternommen, geschaffen und aufgebaut worden sei. Er sprach von der Bodenreform, der ‚demokratischen Umerziehung‘, der Überführung von Produktionsmitteln in Volkseigentum, über Beschlüsse zur Förderung des geistigen Lebens, die auf eine innigere Verbindung zwischen dem Volk und den Kulturschaffenden zielten. Er sprach von der anständigen Armut, in welcher man hier, ohne geborgtes Geld, mühselig, aber ohne Neid auf Reichere, seine nach bestem Wissen aufbauende Arbeit tue.“
Wenn es nun im dreißigsten Jahr nach dem Fall der Mauer um die dahingeschiedene Republik geht, sollte nicht nur von Schalck-Golodkowskis wundersamen Geldvermehrungsversuchen und Honeckers Jagdeifer die Rede sein. Man versteht das Ende der DDR nicht, wenn man ihren Anfang nicht begreift, mit Menschen, denen „angestrengt guter Wille und reiner Idealismus an der Stirn zu lesen waren“. Thomas Mann war auch hier ein sehr präziser und zugleich unparteiischer Zeuge.