von Mario Keßler
Wo er ging und sprach, entstand Hoffnung, gespeist aus Ideen. Axel Schildt war ein nicht naiver, doch steter Optimist, ein Ideengeber, der Lebensfreude und Herzlichkeit ausstrahlte. Am 5. April ist mit ihm einer der besten und produktivsten deutschen Zeithistoriker verstorben. Er wurde nur 67 Jahre alt.
Axel Schildt, der bis zur Emeritierung 2017 die Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) leitete und an der Hamburger Universität eine Professur für Neuere Geschichte innehatte, war zeitlebens mit seinem Geburtsort verbunden, doch führte ihn sein Weg zunächst von Hamburg an die Universität Marburg, wo er 1980 mit einer von Gerd Hardach betreuten Arbeit über „Die Querfrontkonzeption der Reichswehrführung um General Kurt von Schleicher am Ende der Weimarer Republik“ zum Dr. phil. promoviert wurde. Nach Gymnasiallehrer-Tätigkeit und einer Assistenz in Hamburg habilitierte er sich dort 1992 über „Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik in den 50er Jahren“. Nach Privatdozentur, Vertretungsprofessuren und der Arbeit als Stellvertretender Direktor der FZH übernahm er 2002 die Leitung der Einrichtung.
Unter Axel Schildts Direktion weitete die Forschungsstelle ihr ursprüngliches Programm, das auf Themen des 20. Jahrhunderts im norddeutschen Raum konzentriert war, mehr und mehr aus. Die von ihm an der FZH und der Universität verantworteten Dissertationsprojekte behandelten – dies als kleine Auswahl – unter anderem das Verhältnis von Militär und Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland im Satirespiegel des Simplicissimus, den Kommunistischen Kinderverband in der Weimarer Republik, den juristischen Umgang mit der nazistischen Vergangenheit an ausgewählten Orten, die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, Jugendkultur in der frühen Bundesrepublik und die Rezeption amerikanischer und britischer Rockmusik in Westdeutschland.
Ohne die bislang dominierende politische Geschichte irgendwie zu vernachlässigen, legte die FZH unter Schildts Leitung die Schwerpunkte auf kultur- und sozialhistorische Themen, um gesellschaftliche Veränderungen vor allem in urbanen Kontexten zu untersuchen. Ein Schwerpunkt dabei war die Geschichte des Wohnens und Freizeitverhaltens, ein anderer die biographische Forschung mit der Hervorhebung subjektiver Wahrnehmungen und Erfahrungen historischer Akteure. Axel Schildt hob dabei die spezifische Rolle Hamburgs als internationale Hafenstadt in der Kombination lokaler, nationaler und globaler Zusammenhänge hervor.
Dies zeigte sich in einer Reihe eigener Bücher: 1988 erschien seine Monographie über „Die Grindelhochhäuser. Eine Sozialgeschichte der ersten deutschen Wohnhochhausanlage Hamburg-Grindelberg 1945–1956“, 1995 folgte die überarbeitete Habilitationsschrift über „Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und ‚Zeitgeist‘ in der Bundesrepublik der 50er Jahre“, 2007 fasste er in Gemeinschaft mit seinem kongenialen wissenschaftlichen Partner, dem in Kopenhagen lehrenden Historiker Detlef Siegfried, seine Erkenntnisse im Grundlagenwerk „Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart“ zusammen. Unter seinen vielen anderen Büchern seien eine Einführung in die Geschichte der Weimarer Republik, eine Sozialgeschichte der Bundesrepublik und eine Biographie des Emigranten und späteren Hamburger Bürgermeisters Max Brauer genannt.
In einem weiteren Buch über „Konservatismus in Deutschland – von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ plädierte Schildt, selbst alles andere als ein Konservativer, für eine differenzierte Sicht besonders auf den westdeutschen Konservatismus nach 1945. Ohne dessen rückständige, demokratie- und republikfeindlichen Orientierungen zu beschönigen, sah er darin nicht das ganze Bild: Auch Konservative hätten bemerkenswerte Lernprozesse vollzogen und in ihrer Hinwendung zur Europa-Idee seien sie der Linken oftmals auch voraus gewesen. Konservative hätten den Kapitalismus, wenn sie es denn taten, nicht nur von rechts, sondern auch auf der Basis eines christlichen Sozialismus kritisiert.
Ähnlich differenziert war Axel Schildts Auffassung von den verschiedenen Formen des Kommunismus. Er, der sich als Student kurz bei der DKP engagiert hatte, wurde zum Ideenspender einer linken Ökumene. Ausdrücklich schloss er darin die Tradition des kommunistischen Antifaschismus ein. Er engagierte sich für die Einrichtung eines Archivs der kommunistischen Opposition an der FZH, deren Grundstock die Nachlässe der beiden KPDO-Mitglieder Josef und Theodor Bergmann bilden sollten. In diesem Sinn initiierte er ein Forschungsprojekt über „Dissidente Kommunisten“, das Forscherinnen und Forscher aus Ost und West zusammenführte und das er zusammen mit Knud Andresen von der FZH und dem Autor dieses Nachrufs leitete. Ein unter diesem Titel erschienener Band war das letzte aus eigener Initiative entstandene Buch, das Axel Schildt noch in den Händen halten konnte.
Die Zeitgeschichte, zumal die deutsche, bleibe an die Jahre 1933 bis 1945 gebunden, sagte er in seiner Abschiedsvorlesung an der Universität Hamburg. Zugleich aber habe die Bankenkrise von 2008 das weltweite Ende des „Neoliberalismus“ – von ihm bewusst in Anführungszeichen gesetzt – eingeleitet. Die Zurichtung der menschlichen Persönlichkeit auf dessen Forderungen stoße an Grenzen, doch sei die Herrschaft des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus nicht am Ende. Auch Zeithistoriker, und nicht nur die Linken unter ihnen, seien hier zum Nachdenken herausgefordert, damit die soziale Frage nicht in rechtspopulistischer Weise „beantwortet“ werde. Allein dies, und das betonte Axel Schildt immer wieder, mache auch weitere Forschungen zum Arbeitermilieu und zur Arbeiterbewegung notwendig.
Die Geschichte der Intellektuellen und in Sonderheit der Remigranten in beiden deutschen Staaten nach 1945 brachte uns zu gemeinsamer Arbeit zusammen. Ein anderes Interessengebiet war die europäische Jugendkultur vor und nach 1968. Es ließ sich hervorragend mit Axel über die „richtige“ Musik fabulieren – selbstverständlich die der 1960er und 1970er Jahre. Vom britischen Beat über den Blues Rock bis zum West Coast Rock wusste er einfach alles – um pointierte, manchmal jungenhaft subjektive Urteile nie verlegen. Dabei konnte er sich herrlich entspannen. Wenn er überhaupt einen „leicht aggressiven Zug“ (so sein eigenes Urteil) erkennen ließ, dann an der Tischtennisplatte. Dort fiel ihm das Verlieren schwer.
Axel Schildt wurde mit verantwortungsvollen Ämtern, so im Verband Deutscher Historikerinnen und Historiker und der Willy-Brandt-Stiftung, betraut. Auszeichnungen und Ehrungen wie die Medaille für Kunst und Wissenschaft der Stadt Hamburg erfreuten ihn, standen aber nicht im Zentrum seines Daseins. Dieses Dasein fand nach kurzer, schwerer Krankheit ein nur allzu frühes Ende. Sein Werk bleibt ebenso wie die Erinnerung an einen in jeder Sicht guten Menschen.
Schlagwörter: Axel Schildt, Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg, Mario Keßler, Neuere Geschichte