22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Rembrandt – alles wollend, alles wagend

von Ingeborg Ruthe

Wer hat, der hat. Und kann das von den Vä­tern Ererbte, das Erworbene, Gestiftete, Geschenkte, Gehegte und Gepflegte auch stolz zeigen. Weder ein sünd­haft teures Aus-aller-Welt-Leihgaben-Spektakel haben Schatz-Häuser wie das Amsterdamer Rijksmuseum und das Haager Mauritshuis nötig, noch eine Rechtfertigung, wieso schon wieder auch ihre neuesten Rembrandt-Ausstellungen auf Publikumsrekorde zusteuern.
Der Nationalheilige der Niederlande, Rembrandt Harmenszoon van Rijn, Protagonist der Epoche des Goldenen Zeitalters, starb an einem Oktobertag vor 350 Jahren, mit 63. „Alle Rembrandts“ titelt selbstbewusst das Rijksmuseum mit einer exzellenten Schau. Noch nie zuvor, und das ist wahrlich ein Superlativ, hat das Haus derart viele der lichtempfindlichen, darum nur ganz selten ausgestellten Papierwerke des gebürtigen Leideners aus eigenen Mappen und Schränken gezeigt. 60 Zeichnungen und 1300 Radierungen (300 sind zu sehen) besitzt das Rijksmuseum, dazu 22 (vom Rembrandt Research Project unbezweifelte) Bilder, vom Selbstbildnis als junger Mann bis zum reifen „Selbst als Apostel Paulus“, von der „Tuchmachergilde“ über die kapitale „Nachtwache“ – die wird ab Sommer öffentlich restauriert – bis zur späten „Judenbraut“.
Letzteres Gemälde, mit seinen faszinierenden Farb- und Lichteffekten und der gröberen, beinahe impressiv flirrenden Malweise, sieht man im Rijks als Spätwerk-Referenz zwischen aufs Wesentliche reduzierten Grafiken aus allen Schaffensphasen. Es hängt dicht neben der bräunlichen Radierung mit dem Porträt des Amtschreibers Coppenol, 1658. Ausgerechnet dieses prägnante grafische Motiv haben sich kürzlich KI-Experimentierende ausgesucht, um per Algorithmen einen „Alten Meister“ zu generieren. Das Ergebnis erwies sich, nicht nur verglichen mit dem vielschichtigen Original, als künstlerisch ziemlich dürftig.
Rembrandts Stift, die Feder, die Radiernadel und selbstredend der erst feinmalende, später furios-lockere Pinselduktus agierten wie in einer Regie. Der mit Licht und Dunkel bis zur Perfektion inszenierende Rembrandt gelangte schon beizeiten zum zutiefst Menschlichen, dem Herb-Schönen, Emotionalen, ohne Scheu vor Melancholie, Hässlichkeit und Verfall. Er machte zum Bild, was er sah. Und er sah tiefer, erfand dazu, suchend und erneuernd. Er stellte eine lebhafte Interaktion zwischen Figuren und Historienambiente oder alltäglicher Raumszene her. Das Neue, das Rembrandt in die Kunst brachte, war das Dialogische. Die Akteure stellte er oft einander ge­genüber, meist mit dem Rücken zum einfallenden Licht hin angeordnet. Das Phänomen der Reflexion war wohl seine Lieblingsbeschäftigung.
Rembrandt, Sohn eines Müllers und einer Bäckerstochter aus Leiden, war ein Wahrheitssucher. Dazu ein Geschichtenerfinder. Das ist der stärkste Eindruck nach dem ersten Rundgang in den sechs Sälen mit nachtblau bespannten Wänden und auf 50 Lux herabgedimmtem Licht.
Seine winzigen, umso bezwingenderen, mit entschiedenen Linien aufs Papier gesetzten Selbstporträts im ersten Raum sind nachgerade zeichnerische Erforschungen seines eigenen Gesichts im Spiegel, jung, wild, ehrgeizig, seiner Kräfte bewusst, alles wollend, alles wagend, später vom Leben gezeichnet, trauernd und schmerzhaft wissend, wie sehr doch alles Streben am Ende in die Irre führt und nichtig wird. Blatt für Blatt, Bild für Bild führt uns Rembrandt – so uneitel wie monomanisch, und dabei sprunghaft im Stil – den Verlust des jugendlichen Aussehens, der Vitalität, der Gesundheit vor. Und so ganz nebenbei amüsiert, wie er das damals unter hochmütigen Adligen wie würdevollen reichen Bürgern übliche Barett mit größter Aneignungsgeste als Attribut des Künstler-Habitus etablierte. Im Alter versah er den markanten Kopfputz mit reichem orientalischen Design, was einen frappierenden Kontrast zu den grauen Haarfusseln bildet, den wie Jahresringe aussehenden Stirnfurchen, den Tränensäcken unter den müden Augen und der großporig aufgeworfenen Altmännernase.
Rembrandt brachte in die Welt der Künste eine Befragung des Menschlichen schlechthin, was noch nie, auch nicht in der Renaissance, da war. Als er alt, krank, wegen seiner geschäftlichen Misswirtschaft verarmt starb, war in Europa, auch in den Niederlanden, der Klassizismus modern geworden. Moden und Trends aber konnten sein Lebenswerk nie nivellieren, im Gegenteil, es wirkt auf uns immer grandioser und einzigartiger. Und spätestens nach 1830 avancierte Rembrandt in seinem Heimatland postum zum Nationalhelden, als Belgien sich samt der Verehrung des übermächtigen Barock-Malers Rubens staatlich separiert hatte. Instanzen der Kunstwelt rühmten seither den genialen Geschichtenerzähler Rembrandt, seien seine Sujets nun historisch, biblisch oder alltäglich – bis zum Intimsten.
Rembrandt erforschte zeichnend, radierend, malend sich selber und seine Umwelt genau – und gnadenlos: die alte verhärmte Mutter, seine schöne, jung verstorbene Frau Saskia, den ebenfalls nicht alt gewordenen Sohn Titus, seine mollige Lebensgefährtin Hendrickje Stoffels, die groben Marktweiber und die Straßenmusiker Amsterdams, die Bettler und Vagabunden. All die Mühseligen und Beladenen eben.
Er erlangte gerade beim Zeichnen und Radieren schon früh eine Freiheit, Leichtigkeit und einen nervösen, emotionalen Ausdruck, was nahelegt, dass er dafür kaum akademischer Unterweisung ausgesetzt gewesen war. Auch fallen schon früh das suggestive Zusammenspiel von Hell und Dunkel und die atmosphärische Perspektive, mit Hilfe disparatester Schraffuren, auf. So anders als die stilisierten Linien vieler seiner Zeitgenossen. Logisch, dass er für diese Erkundungen voller Hingabe selbst sein dankbarstes Objekt war. Und er porträtierte, mit und ohne Auftrag, alle: die hohen Persönlichkeiten seiner Zeit, die Protagonisten der einflussreichen Gilden, die Amtsträger und ihre schmuckbeladenen Damen, die stolzen Bürger Amsterdams, die gleichnishaften, tief lotenden Bibel-Kapitel. Seltsam nur, dass dieser Maler Zeit seines Lebens nur einen einzigen höfischen Auftrag erhielt.
Aufträge der Bürgerschaft kamen umso mehr: 1631 malte er den „Anatomieunterricht des Dr. N. Tulp“. Das nach 1800 vom König gekaufte Bild ist heute das Kronjuwel des Haager Mauritshuis. Damals erworben von den in Geldnot steckenden Witwen der Amsterdamer Chirurgengilde, war dies in zweierlei Hinsicht eine Rettungsaktion. Das grandiose Gemälde hing nämlich seit Rembrandts Zeiten in der Küche des Gildehauses De Waag, war Fett und Kochdämpfen ausgesetzt und nicht in bestem Zustand. Der ist heute tadellos, und das Mauritshuis zeigt es an seinem besten Platz, zwischen elf unbezweifelten und zwei derzeit noch mit Fragezeichen versehenen Gemälden des Meisters.

„Alle Rembrandts“ – Amsterdam, Rijksmuseum, bis 10. Juni.
„Rembrandt und das Mauritshuis“, Den Haag, bis 15. September.

Berliner Zeitung, 20. Februar 2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.