von Wilfried Schreiber
Um es vorwegzunehmen: Wer begreifen möchte, warum sich gegenwärtig in der deutschen und der EU-europäischen Außenpolitik ein Paradigmenwechsel vollzieht – und worin er sich zeigt –, dem sei die Publikation „Die Militarisierung der EU“ dringend empfohlen: Claudia Haydt und Jürgen Wagner analysieren darin den langfristig angelegten Prozess einer strategischen Umorientierung der Europäischen Union von einer Zivilmacht zu einer Militärmacht mit geopolitischem Anspruch.
Die Arbeit ist gut recherchiert und sachlich formuliert. An ihrer kritischen Position zu dieser Umorientierung lassen die Verfasser von Anfang an keinen Zweifel. Wohltuend sind der Verzicht auf Alarmismus und die Betonung des Wandels als ein dynamischer Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Es sind vor allem die Entwicklungen der letzten 20 Jahre, die untersucht werden und mit PESCO (der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“) zu einem qualitativen Einschnitt geführt haben.
Der erste von zwei Schwerpunkten des Buches betrifft die Herausbildung einer eigenen Globalstrategie der Europäischen Union (EU). Die Autoren weisen das sowohl in konzeptioneller Hinsicht als auch anhand der bisherigen politischen und militärischen Umsetzung nach. Als Ausgangspunkt für diesen Prozess betrachten sie den langfristig angelegten Anspruch der EU, innerhalb von 25 bis 50 Jahren als weltpolitischer Akteur handlungsfähig zu sein. Den Beginn des Übergangs von der „Zivilmacht Europa“ zum „Europa der Geopolitik“ sehen sie in den frühen 90er Jahren, unmittelbar nach dem Ende der Blockkonfrontation. Einen ersten verbindlichen Niederschlag finde diese – zunächst noch – Idee in der „Europäischen Sicherheitsstrategie“ vom Dezember 2003. Das ist noch weit vor der Krise in der und um die Ukraine, die gegenwärtig als Hauptargument für den Militarisierungsschub der EU benutzt wird.
Ausführlich analysieren die Autoren die im Juni 2016 vom EU-Rat verabschiedete EU-Globalstrategie (EUGS) als in sich „schlüssiges imperiales Raumkonzept“. Die politische und militärische Umsetzung verlaufe nahezu parallel und zeige sich sowohl in der Osterweiterung der EU 2004 als auch in der ihr folgenden Nachbarschaftspolitik. Hier sei bereits der Ansatz zu erkennen, eine „enge Verschränkung ziviler und militärischer Fähigkeiten“ als „eine Art Markenkern und Leitbild für alle Ebenen des EU-Außenhandelns“ zu etablieren. Am Beispiel von fünf Regionalbereichen – Balkan, Kongo und Somalia, Ukraine, Syrien und Nordafrika – weisen sie den expansiven, geostrategischen Charakter dieser Nachbarschaftspolitik nach. Es seien vor allem ökonomische und politische Interessen, die hier im Vordergrund stehen und in der Einheit von ökonomischen und militärischen Aktivitäten durchgesetzt werden. So sei im Osten und im Süden der EU aus einem Freundeskreis ein Krisenbogen im Sinne eines Feuerrings entstanden, der zeige, „wie wirtschaftliche Expansionsinstrumente und deren militärische Absicherung“ miteinander zusammenhängen.
Der zweite Abschnitt des Buches befasst sich dezidiert mit der Stärkung der Militärmacht der EU und stellt dabei die Implementierung von PESCO, CARD und EDF Ende 2017 als qualitativen Einschnitt auf dem Wege zu einer Europäischen Rüstungsunion in den Mittelpunkt. Die drei neugeschaffenen EU-Institutionen „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO), „Koordinierte Jährliche Zusammenarbeit“ (CARD) und der „Europäische Verteidigungsfonds“ (EDF) werden jeweils in eigenständigen Abschnitten, zugleich aber auch in ihrem funktionellen Zusammenwirken behandelt. Als eine neue Qualität wird dabei insbesondere die Aushebelung des europäischen Primärrechts herausgearbeitet, wonach EU-Beschlüsse nur einstimmig gefasst werden dürfen. PESCO ist aber auf der Grundlage von Artikel 42 bis 46 des EU-Vertrags von Lissabon eine „Koalition der Willigen“, die ihre Beschlüsse eigenständig mit qualifizierter Mehrheit fasst. Und wer nicht mitmacht, hat auch kein Stimmrecht. Das ist die rüstungswirtschaftliche und militärpolitische Vorsorge für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der EU im Falle eines weiteren Zerfalls der Union beziehungsweise zur Weiterführung der Union im Sinne eines „Kerneuropas“ oder eines „Europas der zwei Geschwindigkeiten“.
Claudia Haydt und Manfred Wagner beziehen sich bei der Erklärung des geostrategischen Wandels der EU vor allem auf Entwicklungen im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Gemeint sind hier ihre Aussagen zur gemeinsamen Studie von The German Marshall Fund (GMF) und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) „Neue Macht – neue Verantwortung“ vom September 2013 sowie zur Krise in der und um die Ukraine seit Anfang 2014, zur Europäischen Globalstrategie (EUGS) vom Juni 2016 wie auch zur Brexit-Entscheidung der Briten, ebenfalls vom Sommer 2016. Angesichts der langen Geschichte der westeuropäischen Rüstungs- und Verteidigungsunion, die seit Ende der 50er Jahre durch zahlreiche politische Vorstöße und auch durchaus erfolgreiche Kooperationsprojekte gekennzeichnet ist, scheint diese zeitliche Akzentuierung der Autoren jedoch etwas zu kurz gegriffen sein. Gregor Schirmer ist mit seinem Buch von 2012 (!) „Der Aufstieg der EU zur Militärmacht“ weitsichtiger und historischer an diese Problematik herangegangen. Dieser Hinweis soll den Wert der Arbeit von Haydt und Wagner keineswegs schmälern, sondern den Leser dazu auffordern, den Blick bewusster auf die lange Vorgeschichte des außen- und sicherheitspolitischen Umbruchs der EU zu richten.
Ein wesentlicher Vorzug des Buches ist der realistisch-pragmatische Umgang der Autoren mit den Umsetzungsprozessen, die noch keineswegs als unumkehrbar dargestellt werden. Der abschließende Abschnitt ist den „potentiellen Stolpersteinen“ gewidmet. Gemeint sind zunächst die inneren Widersprüche bei den Hauptakteuren der Militarisierungspolitik selbst. Diese Widersprüche haben sich bisher als größtes Hindernis für eine Militärunion erwiesen, was in der relativen Unverbindlichkeit aller bisherigen Beschlüsse zu PESCO, CARD und EDF zum Ausdruck komme. Im Einzelnen wird dabei besonders auf die gegenwärtigen Unwägbarkeiten in den Beziehungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer zu den USA, auf die immer wieder aufbrechenden Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich sowie auf die bestehenden Binnenkonflikte und Zentrifugalkräfte in der EU eingegangen. Die Hoffnung auf eine Umkehr der Entwicklung bleibt also. Vorausgesetzt, es wirken außerdem noch starke Gegenkräfte, die sich dem Militarisierungsprozess bewusst entgegenstellen. Insofern wenden sich die Autoren am Schluss ihres Buches direkt an die Friedens- und Antikriegsbewegung mit der Aufforderung, friedenspolitische Antworten zu geben. Die bevorstehenden Wahlen für das EU-Parlament könnten geeignet sein, eine entsprechende Debatte unter den deutschen und europäischen Linkskräften anzustoßen und politische Alternativen zu finden. Dieser Teil der Auseinandersetzung mit der Militarisierung der EU muss allerdings noch genauer definiert und praktiziert werden – möglichst von der Friedensbewegung selbst. Wenn nicht, könnte es aber auch zu einem bösen Erwachen kommen.
Claudia Haydt / Jürgen Wagner: Die Militarisierung der EU. Der (un)aufhaltsame Weg Europas zur militärischen Großmacht. edition berolina, Berlin 2018, 304 Seiten, 14,99 Euro.
Schlagwörter: Claudia Haydt, Europäische Union, Jürgen Wagner, Militarisierung, Wilfried Schreiber