22. Jahrgang | Nummer 7 | 1. April 2019

Er hatte keine Visionen. Er las Zeitung

von Ingeborg Ruthe

Der Haufen Aufständischer, marschierend, sich in den Straßen drängend, dargestellt in roter Tinte, besagt: Es geht um alles oder nichts. Es ist eine Demonstrationsszene vom 1. Mai 1848. Zum Feiertag der Arbeitenden wurde das Datum in Deutschland und auch anderswo in Europa freilich erst 1919 deklariert.
Aber darum scherte sich der Zeichner Alfred Hrdlicka nicht. Er passte den längst weltweit begangenen Kampf- und Feiertag der für die Reichen und Mächtigen schuftenden Klassen einfach rückwärts in die Geschichte ein, erinnert so an die Aufständischen vom 1. Mai 1856 in Australien und an 1886, an die für viele Demonstranten verhängnisvolle Haymarket-Demo in Chicago.
Die aggressive 1848er Szene scheint mit Blut gedruckt. (Zur Abbildung der Radierung hier klicken! Die Redaktion) Sie erinnert an das opferreiche Jahr der bürgerlichen Revolution in Deutschland, die noch keineswegs zur Abdankung der Monarchie führte. Die Aufständischen − in abenteuerlichem Aufzug, mit Fahnen und bizarrster Bewaffnung, die eher an den Bauernkrieg denken lässt − erscheinen als Masse, die nichts mehr zu verlieren hat. Rasch, entschlossen, hart hat der Bildhauer die Figuren mit der Radiernadel in die Metallplatte geritzt. Die Körpergerippe gleichen Gestalten aus mittelalterlichen Totentänzen.
Hrdlicka hat zeitlebens, sozusagen bis zum letzten Atemzug und bis zum letzten unverzichtbaren Wasserglas voller Wodka provoziert, genervt, rigoros realistisch ausgedrückt, was er zu sagen hatte. Der Chaotiker Hrdlicka, der nichts erklärt, sondern das Entsetzliche, von dem er hört, das er erlebt, darstellt.
Egomanisch und kompromisslos stur, kritisch, hoffnungslos subjektiv, aber auch ohne Rücksicht auf sich selbst mischte er sich in politische, moralische und humanistische Belange ein. „Ich habe keine Visionen. Ich lese Zeitung!“, war so ein Statement von ihm, das viel sagte und noch mehr meinte. Unpolitische Kunst gab es für ihn nicht.
Man findet im späten 20. Jahrhundert wohl keinen figürlich arbeitenden Bildhauer, der ihn übertraf in seinem schockierend deutlichen Humanismus, in diesem exzessiven Ausdruck für Mord, Terror und sexuelle Brutalität. Vor allem aber zeigte er rückhaltlos das Ambivalente des Menschen: leidend als Opfer, triebhaft im Wesen und oftmals auch Täter aus Überzeugung. Die Devise seines Schaffens fasste Hrdlicka, Freund des Philosophen Elias Canetti („Masse und Macht“), in dem Satz „Alle Macht in der Kunst geht vom Fleische aus“ zusammen.
Und der Aufschrei war weithin zu vernehmen, als der Wiener Linke 1993 die Idee hatte, den wiedervereinigten Deutschen einen großen, bronzenen „Schreibtischtäter“ vor den Reichstag zu setzen, als mahnende Metapher, in der Form traditionell, im Inhalt rebellisch: „Die Nazis hinterließen Leichenberge. Die DDR hinterließ Aktenberge“, so Hrdlicka. Im Bundestag kam das als Anmaßung an.
Noch größer waren schon zwei Jahre zuvor die Erregung und die Abwehr, als der Bildhauer den Wienern 1991 vor ihre Albertina das formal brutale Mahnmal gegen Krieg und Faschismus stellte, ganz unten, auf dem Pflaster, der bronzene alte Jude, der die Straße schrubbt. Diesen Anblick verbaten sich Rechtsgesinnte. Sie wollten nicht daran erinnert werden, wie gleichgültig Wien sich 1941/42 verhalten hatte, als Hitlers SS die Juden vor der ganzen Stadt demütigte, dann deportierte.
Die Welt ist nicht friedlicher, nicht menschenfreundlicher geworden seit Hrdlickas Tod. Das besagt postum eine seiner letzten Bronzen, der „Weibliche Torso“. (Zur Abbildung des Werkes hier klicken! Die Redaktion) Das Elend und Fiasko „fataler Revolutionen“, wie er über die Revolutionen von Robespierre zu Stalin und Hitler sprach, steckt in der Gestalt, deren Kopf unter einem Überwurf steckt: Trauer, Angst. Scham?
Die Figur passt wie eine Schwester zu den Trauermüttern der Kollwitz. Und es ist, als habe Hrdlicka mit seinen ungestümen Zeichnungen, den papiernen Szenen voller Grausamkeiten, Perversionen, Gewaltfantasien den Terror, den Machtmissbrauch, die Kriegsschauplätze von heute vorweggenommen. Als belege er damit, dass es die unbefriedigten Kampfzonen von gestern sind, weil keiner dazugelernt hat, nicht die Machthaber und auch nicht deren Regierte.

Käthe-Kollwitz-Museum Berlin: Zehn Jahre nach dem Tod des Wiener Künstlers zeigt das Haus zusammen mit der Wiener Galerie Hilger „Auf den Barrikaden“ – Zeichnungen und Plastiken aus Zyklen zur „Französischen Revolution“ und zur „Revolution 1848“, Fasanenstr. 24, 10719 Berlin, bis 2. Juni, täglich 11–18 Uhr.
Am 16. Mai, 19 Uhr, Vortrag: „Künstler! – Politische Künstler?“. Informationen telefonisch unter 030-8825210 oder im Web unter https://www.kaethe-kollwitz.de.

Berliner Zeitung, 22.03.2019. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.