von Klaus Hammer
Ihre Skulpturen haben die Dimension psychisch erfahrbarer Gefährdung. Raum tritt ein, füllt die Zwischenräume als Antivolumen aus. Es sind Gestaltzeichen, Verkörperungen von Lebens-Haltungen, Elementarzeichen des Leidens und Sich-Behauptens.
Die bewusst anti-ästhetische Haltung, mit der die Unversehrtheit des Menschen und seine Verletzlichkeit zum Ausdruck kommen, ist lange Zeit als schockierend empfunden worden. Der Bildhauerin Sabina Grzimek hatte Uwe Kolbe 1988 aus Worpswede geschrieben: „Alle Angst ist da und alles Ausgeliefertsein, der Raum von Fragen, der ein Leben ist. Und aller Liebreiz ist da […] Geduldig schreitest du deinen Kreis aus, schaust und nimmst, was ist […] das ist Kraft […] Der Zirkel antiker Dramen, ihr Stoff ist von verwandter Art […].“
Sabina Grzimek beobachtet den Menschen, wie er sich bewegt, und sie hat eine enorme Beobachtungsgabe, bestimmte Bewegungen gerade in der Zehntelsekunde zu erfassen, wenn sie für ein Verhalten besonders charakteristisch sind. Seismographische Sensibilität und beseelte Vergeistigung, fragile Poesie und archaisch verhaltene Strenge besitzen ihre Figuren, die jetzt in der Galerie Poll gezeigt werden, die Stehenden und Ruhenden, Sitzenden und Liegenden – scheinbar kanonische Haltungen, und doch haben sie sich aus dem klassischen Koordinatensystem entfernt, sie kippen aus der traditionellen Raumvorstellung, und man kann mit einigermaßen Sicherheit der Künstlerin unterstellen: Auch sie geht partout falsch über die Kreuzung. Die ganz einfachen Körperbewegungen werden fast unerträglich deutlich, schmerzhaft genau, sie werden plastisch definiert. Exakt sind die Raumpunkte ausgelotet. Ihre Modelle hat sie aus ihrem eigenen Lebenskreis, erst in der Marienburger Straße im Prenzlauer Berg, dann in Erkner geholt, wo sie lebt und arbeitet, es sind ihre Kinder, Bekannte und Nachbarn, sie porträtiert sie von innen und außen. Sie teilt uns die Lebendigkeit des Unscheinbaren mit, die Verletzlichkeit (die Angst der Mutter, die ihr Kind gegen die Bedrohung des Lebens zu schützen sucht), sie macht uns die fragile Schönheit des im Spielen selbstvergessenen Kindes begreifbar. Sie lässt uns durch die schrundig raue Expressivität ihrer Figurenmodellierung wie durch gratige Aufbrüche der Oberfläche in das Innere dieser Menschen hineinblicken. Alles Spektakuläre ist ihr fremd. Die Figuren sind, wie ihre deutlich sichtbaren Sockel beweisen, als autonome Plastiken ausgewiesen. Aber sie lässt auch eine andere Syntax genauso möglich wie gültig erscheinen.
Die Bildhauerin trägt Gips auf ein Gerüst, das oft an den Enden der Gliedmaßen skeletthaft und funktionell – wie beim Hund „Che sitzend“ (2009-11, Bronze) – sichtbar bleibt, umbröckelt von verflackernder Form. Erschütternder Ausdruck der Vergänglichkeit an diesen gleichermaßen zur Gegenwärtigkeit wie Zeitlosigkeit tendierenden Körpern. Die Bedeutung des Fragments als dem noch aussagbaren Teil des Ganzen wird begreifbar, aber niemals ist dieses Fragment artistischer Trick.
Ein Porträtkopf hat Ecken und Brüche, Rinnsale, ein psychisches Geäst von Flechten hat der Bronzefluss hinterlassen. Farbe gibt ihm eine sprechende Lebendigkeit. Durch seine nahansichtige Darstellung, durch direkte Blickführung, von oben nach unten, von unten nach oben, durch die Wendung des Kopfes setzt das Porträt Modell und Betrachter einer direkten Konfrontation aus „Matthias (Zia Maria)“, 2005; „Christoph Tannert“, 2018; „Gabriele Muschter“, 2018 (alle Gips). Ein fragender Blick richtet sich auf den Betrachter. Drückt er Selbstbewusstsein oder Selbsterforschung aus, meint er die Fragwürdigkeit der Welt oder die Ohnmacht des Einzelnen?
Auf ihren Radierungen, ihren Aquarellen fängt sie Menschen ihrer Umgebung, Tiere ein, sie hat sie genau studiert, sie sind ihr vertraut, ihre Physiognomie wie ihre Psyche, ihre Haltung wie ihr Lebensgefühl. Ein fragmentarischer Stil, eine Minimalgeste bildet sich aus, die die lapidare wie nervöse Linie als Ausdrucksträger, Empfindungsvermittler begreift, dann sich aber auch wieder mit dem Ertasten von Tiefenbezügen bescheidet. Wie verhält sich der Raum zwischen den Körpern zu den Figuren? Die auch farbigen Blätter wirken wie Reliefs, über die das Licht hinweghuscht. Mit dieser Stilistik erreicht Sabina Grzimek im Porträt verknappende Charakterdeutung („Ohne Titel (Selbst)“, 1992, Radierung) und im mehrfarbigen Blatt Bekenntnisse zum Alltag und menschlichen Dasein („Ohne Titel“, 1999, Aquarell auf Amalfipapier; „Ohne Titel (Figur in Flusslandschaft)“, 1999, Aquarell auf Papier).
Doch völlig heiter ist diese Welt nie. Der Hund Che, vom Tode gezeichnet, welch Schmerz und Ergriffensein drückt sich hier aus! Ihre Figuren geben Zeichen: Sie warnen, weisen auf Gegenwärtiges wie Künftiges, verkünden mitunter Bedrohliches, appellieren an unsere Verantwortung als Menschen.
Ihre Landschaftsdarstellung aber, ganz in der Tradition der Romantik stehend, verkündet die Schönheit der Natur und die Liebe zur heimatlichen Landschaft. Die Nahansicht, als Stilmittel zur Darstellung des Menschen angemessen, eignet sich nicht dazu, die Weite der Landschaft zu vermitteln. Die Verbindung zweier verschiedener Sehdistanzen, der Fern- und Nahsicht, erzeugt eine besondere Raumspannung.
Blätter, die nicht für die Ewigkeit konzipiert sind, sondern in einer Situation stehen, aus der sie ihren Sinn beziehen. Nicht die Homogenität eines Stils, eines Trends wird hier repräsentiert, sondern dem Betrachter wird ein Ausschnitt aus der zwanglos gewachsenen Vielfalt in der Entwicklung einer Künstlerpersönlichkeit geboten. In besonders gelungenen Fällen tragen sie durch Witz, Humor und Scharfsinn bereits aus eigener Kraft den erfüllten Augenblick der ästhetischen Erfahrung. Sie haben eine zarte, spröde und unverwechselbare persönliche Ausstrahlung. Erkennen durch Anschauung geht vor Verstehen durch Erklärung. Nahes und Entferntes, Verwandtes und Disparates. Zustände des Bewusstseins, die aus Erinnern, Erkennen und Ahnen gespeist werden. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung …
Die Arbeiten Sabina Grzimeks sind leidenschaftliche Selbstbehauptungen, vorbehaltlose Selbstdarstellung, in Szene gesetzt mit der ganzen Kraft der Person.
Sabina Grzimeks Welt. Menschen – Tiere – Landschaften. Galerie Poll, Gipsstr. 3, Hof, Parterre, 10119 Berlin-Mitte, Dienstag–Samstag 12–18 Uhr, bis 20. April.
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