22. Jahrgang | Sonderausgabe | 25. Februar 2019

Weltpuff Berlin

von Stephan Giering

Es ist wieder so weit. Der Frühling kündigt sich an. Nicht mehr lange und es blühen die ersten Knospen und bei uns Menschen regen sich die Frühlingsgefühle. Es wird wieder geflirtet, flaniert und gefeiert was das Zeug hält. Die Party People schwirren wieder in großer Zahl aus, um nachts zu feiern und „gemeinsam Spaß“ zu haben. Was war im Nachleben Berlins eigentlich „anno dazumal“ so los?
Rudolf Borchardts posthum veröffentlichter Roman „Weltpuff Berlin“ entführt uns mit viel Phantasie in das amouröse nächtliche Großstadtleben Berlins um die Jahrhundertwende. Obwohl es ziemlich viel um die „schönste Nebensache der Welt“ geht, ist dieser Roman keine testosteronüberquellende Libido-Hommage anno 1900.
Darum geht es in diesem Buch: Ein verbummelter Student aus „gutem Hause“ mit sehr viel Geld, Zeit, sexueller Energie und Ausdauer, schildert genüsslich seine sexuellen Abenteuer in Berlin und dem weitesten Umland zur Zeit der wilhelminischen Jahrhundertwende. Er tut das in einem sehr elaborierten, bildungsnormbezogenen Sprachstil und mit viel wortgewandter Phantasie. An seinen fließenden Englisch- und Französisch Kenntnissen bestehen keinerlei Zweifel, und so lässt er die Lesenden in einigen längeren Passagen in Englisch und Französisch daran teilhaben. Der junge Mann geht bei seinen Kontaktanbahnungen mit der Damenwelt sehr charmant und selbstbeherrscht vor. Ein „Player, Poser oder Aufreißer“ ist er definitiv nicht. Bewusstseinsverändernde Substanzen, oft in Form von hochwertigem Champagner, konsumiert er meistens nicht vor, sondern erst beim näheren Kennenlernen gemeinsam mit den jeweiligen Damen. Bei seiner „Damenwahl“ ist er frei von Standesdünkeln und einer im „Bürgertum“ zuweilen auch heute anzutreffenden Verachtung für Menschen ohne höheren Bildungsabschluss.
Vielmehr werden in den Dialogen dieses Romans durchaus die alltäglichen Schwierigkeiten junger alleinstehender Frauen in der Millionenstadt Berlin thematisiert, berufliche Vollzeitjobs, persönliche und gesellschaftlich erwartete Moralvorstellungen, sexuelle Lust und ihre Sehnsucht nach einem eigenen Familienleben unter einen Hut zu bringen. Gezeigt werden Menschen, die jung und hoffnungsfroh im „Sehnsuchtsort Berlin“ einen neuen Anfang wagen und eine neue, eigene Identität finden wollen. Auch um das Thema Sexualität und Sehnsucht im Alter, womit damals oft schon Menschen jenseits der 40 gemeint waren, drückt sich dieser Roman nicht herum.
Für Berlinkenner und sich mit Berlin heimatlich verbunden fühlende Menschen ist dieser Roman zugleich eine spannende Zeitreise in die Berliner Stadtgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Vorsicht: Bei manchen Passagen könnten nostalgische Gefühle hervorgerufen werden. Denn es wird ein schöne Seite Berlins beschrieben, wie es sie inmitten aller sozialen Spannungen und gravierenden gesellschaftlichen Gegensätzen zu jener Zeit auch gab: super serviceorientierte Lokalitäten mit hochwertigster Küche, in denen man sich noch nachts sein Wunschmenü zusammenstellt und servieren lässt, während im Hintergrund „superstarverdächtige“ Live-Musik dargeboten wird. Eine nächtliche Fahrt mit dem Taxi von der Behrensstraße in Mitte über die Charlottenburger Chaussee in die City-West und zurück nach Mitte nimmt den phantasiebegabten Lesenden mit auf eine Reise, bei der er einerseits Straßennahmen, Orte und Gebäude wiedererkennt, andererseits wehmütig feststellen muss, dass etliche Orte und Gebäude und somit die mit diesen verbundenen Geschichten durch das Grauen des Zweiten Weltkrieges heute unwiederbringlich aus dem Stadtbild Berlins verschwunden sind.
Abschließend sind noch ein paar Sätze zum Autor geboten. Rudolf Borchardt war ein unbequemer Künstler in seiner Zeit. Er lehnte den modernen Zeitgeist um die 1900er Jahre kritisch ab. In der Lyrik und Übersetzung fand er seine „Nische“. Vom italienischen Faschismus war er anfangs wie viele seiner Zeitgenossen fasziniert. Das brachte ihm jedoch keine Erlösung von seiner zuweilen auch vorhandenen eigenen Zerrissenheit. In seiner deutschen Heimat folgte bald eine harte Bruchlandung in der Realität des deutschen nationalsozialistischen Rassenwahns. Weil er Jude war, durfte er viele seiner Texte nicht mehr veröffentlichen, was einer der Gründe für die erst posthum erfolgte Veröffentlichung dieses Romans ist. Auf abenteuerlichen Wegen konnte er sich 1944 aus der SS-Haft befreien und starb kurz vor dem Kriegsende an einem Herzversagen.
Dieses Buch ist ein anspruchsvoller Roman, der mit viel Esprit und Erotik eine abwechslungsreiche Zeitreise in das Berliner Nachtleben von damals ermöglicht.

Rudolf Borchardt: Weltpuff Berlin, Rowohlt Verlag, Berlin 2018, 1088 Seiten, 35,00 Euro.