von Manfred Orlick
Bei meiner letzten Stippvisite in der Büchertelefonzelle auf dem Halleschen Marktplatz entdeckte ich ein frühes Büchereiexemplar (Städtische Volksbücherei Halle Nord – seit 1954 Stadtbibliothek) mit dem charakteristisch dunkelblauen Kunstlederrücken aus dem Jahre 1951: „Johannes R. Becher – Ein Mensch unserer Zeit in seinen Gedichten“. Auf den über 550 Seiten eine Gedichtauswahl von 1911 bis 1951. Als revolutionäre Einstimmung dient das hymnische Sonett „Wir, unsere Zeit, das zwanzigste Jahrhundert“. Danach folgen einige biedere – um nicht zu sagen spießige – Verse des jungen expressionistischen Dichters wie „Kindheit“ („Ich hatte rote Backen, / War ein Bürschlein kugelrund. / Um das Haus sang ein blühender Garten, / Auf dem Balkon hingen Lampione bunt.“ Keine Spur von den anarchistischen Gedichten, in denen der junge Becher seinen Zorn und Hass gegen den autoritären Vater und das wilhelminische Kaiserreich ausdrückte. Vielmehr endet das erste Zeitkapitel 1911–1933 mit der lyrischen Huldigung „Der an den Schlaf der Welt rührt – Lenin“.
Der zweite und größte Abschnitt der Auswahl widmet sich Bechers „Suche nach Deutschland 1933–1945“, gefolgt von Liebesgedichten „Liebe ohne Ruh 1914–1948“ und Gedichten (meist Sonette) zu Gestalten der Geschichte und Kultur – von Prometheus über Riemenschneider und Luther bis zu Marx und Gorki. Die letzten Kapitel bringen dann Gedichte nach 1945, darunter auch „Romane in Versen“ und „Neue deutsche Volkslieder“. Den Abschluss bildete schließlich die Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik.
Es war aber nicht allein die Gedichtauswahl, die mein Interesse weckte – schließlich besitze ich mit dem „Sonett-Werk 1913–1955“ bereits einen umfangreichen Gedichtband von Becher. Nein, die Fußnote „Bibliothek fortschrittlicher deutscher Schriftsteller“ machte mich neugierig. Auf der gegenüberliegenden Seite jedoch gleich die Erklärung, dass diese mir bisher unbekannte Buchreihe „auf Grund der Kulturverordnung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik vom 16. März 1950 herausgegeben wird. Leitung des Redaktionskollegiums – Willi Bredel“.
Nun war meine Neugier endgültig angestachelt, sodass ich am Abend das Internet und einige digitale Kataloge bemühte. Die Reihe (unter der Abkürzung BFDS) erschien von 1950 bis 1954, zunächst im Volk und Wissen Verlag, wurde dann aber 1951 vom Aufbau-Verlag übernommen. Im Staatsauftrag sollte den Werktätigen „große deutsche Literatur“ (das hieß sozialistische beziehungsweise linksbürgerliche Literatur) vor allem von Exil-Autoren nahegebracht werden. Den Auftakt machte der erste Band „Die Väter“ der Trilogie „Verwandte und Bekannte“ von Willi Bredel. 1950 erschienen unter anderem noch „Das siebte Kreuz“ (Anna Seghers), „Der Untertan“ (Heinrich Mann), „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (Arnold Zweig) und eine Gedichtauswahl von Erich Weinert. In den folgenden Jahren waren dann Ludwig Renn, Friedrich Wolf, Bodo Uhse, Bertolt Brecht, Stephan Hermlin, Bernhard Kellermann, Egon Erwin Kisch und Lion Feuchtwanger vertreten. Über die Aufnahme in die Reihe entschied letztlich die ZK-Kulturabteilung der SED.
Die DDR-Leser vermissten aber schmerzlich Autoren wie Thomas Mann oder Hermann Hesse. Als der Verlag 1952 jedoch nach vergeblichen Bemühungen von Hans Mayer und Willi Bredel Sonderausgaben von „Buddenbrooks“ und „Peter Camenzind / Unterm Rad“ zunächst ohne Druckgenehmigungen in der BFDS-Reihe herausgab, kam es zu politischen und juristischen Verwicklungen zwischen dem Verlag und den Autoren (beziehungsweise S. Fischer und Suhrkamp). Erst nach ihrem Erscheinen wurden die Ausgaben sanktioniert. Es ging wie immer auch ums Geld. Schließlich wurden in der Rubrik „Fortschrittliche ausländische Schriftsteller“ auch internationale Autoren wie Jorge Amado, Martin Andersen Nexö, Alexander Scibor-Rylski oder Ding Ling in die Reihe aufgenommen. Zumeist aus den sozialistischen Bruderländern, eine Ausnahme bildeten die beiden amerikanischen Lizenzausgaben „Eine amerikanische Tragödie“ (Theodore Dreiser) und „Straße zur Freiheit / Peekskill – USA“ (Howard Fast).
Die Becher-Gedichtauswahl war übrigens der 21. Band der BFDS-Reihe, gefolgt von dem Brecht-Band „Hundert Gedichte 1918–1950“. Der Proporz sollte sicher gewahrt bleiben. Bis 1954 kamen insgesamt 44 (45) Bände heraus, wobei jeder Band eine Auflage von genau 30.000 Exemplaren hatte. Sie waren in Leinen mit Goldprägung gebunden, im einheitlichen Format (19×12 cm), auf holzfreiem Papier gedruckt, mit Lesebändchen und einem Frontispiz des jeweiligen Schriftstellers versehen, dazu ein mehrseitiges Nachwort. Für die Nachkriegsjahre eine äußerst repräsentative Ausstattung, für die keine Geringeren als die Brüder Wieland Herzfelde und John Heartfield zuständig waren. Dazu betrug die wohlfeile Preisspanne drei bis sechs Mark. Die Reihe war nicht für den Buchhandel vorgesehen, sondern wurde über Organisationen wie FDGB, FDJ und Kulturbund vertrieben, was zu erheblichen finanziellen Verlusten führte. Als schließlich die „Bibliothek“ teilweise auch im Buchhandel angeboten wurde, fand sie dort „wegen der zunehmenden ideologischen Ausrichtung“ nur noch wenig Anklang und wurde eingestellt. So wurde Bredels Roman „Dein unbekannter Bruder“ 1954 auf Bitten des Verlagsleiters Walter Janka bereits in der neuen Aufbau-Buchreihe „Deutsche Volksbibliothek“ herausgegeben. In der ebenfalls durch Regierungsbeschluss ins Leben gerufenen Reihe erschienen bis 1976 sozialistische Gegenwartsliteratur und ausländische Literatur, wobei auch westliche Autoren (unter anderem Sartre und Hemingway) Berücksichtigung fanden.
Doch zurück zu meinem Bücherfund, dessen eingeklebter Leihzettel mit seinen Stempeln verriet, dass sich zwischen 1976 und 1991 magere zwölf Leser für den Band interessiert hatten. Danach wurde er wahrscheinlich aussortiert. Becher-Gedichte hatten kein Bleiberecht mehr in einer öffentlichen Bibliothek, dafür haben sie nun Asyl in meinem Bücherschrank gefunden.
Schlagwörter: Aufbau-Verlag, BFDS, Johannes R. Becher, Manfred Orlick