22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Tapfere Seenotretter, Cromer Crabs und ein Hund namens Monte

von Bettina Müller

Wer mit dem Zug von Deutschland nach Norfolk im Osten Englands fahren möchte, muss viel Geduld mitbringen. Einmal dem Kanaltunnel entronnen, kommt der Reisende am Bahnhof von St. Pancras International in London endlich wieder ans Tageslicht, besteigt dann im unweit gelegenen altehrwürdigen Bahnhof Kings Cross den Zug nach Cambridge, steigt dort um in den Zug nach Norwich, um dann schließlich die letzte Station der langen Fahrt in die östlichste Grafschaft der Insel anzutreten. Ziel der Reise ist das Seebad Cromer in Norfolk. Insbesondere die letzte Etappe in der kleinen Regionalbahn entschädigt für die lange Anfahrt. Sie entschleunigt bereits merklich, der Blick aus dem Fenster wird zum Blick in die Vergangenheit.
Vor hundert Jahren mag es genau so ausgesehen haben, wie heute: Verwunschene Dörfer, aus der uralte Kirchtürme herausragen, eingebettet in eine grüne, beschauliche Landschaft, die wie aus der Zeit gefallen scheint. Nähert man sich schließlich Norfolks Nordseeküste und dann dem Seebad Cromer, wird man schon von weitem von dem nicht zu übersehenden Wahrzeichen der Stadt begrüßt, das schon unzähligen Schiffen als Orientierungshilfe gedient haben mag. Der Kirchturm von St. Peter and Paul ist mit seinen fast 49 Metern der höchste in der ganzen Grafschaft. Cromer mit seinen heute knapp 8.000 Einwohnern ist mittelalterlichen Ursprungs, gegründet aus der Not heraus, als der Ort Shipden im Meer versank. Seitdem ranken sich Legenden um das vom Meer verschlungene Dorf. Ging ein Schiff vor Cromer unter, so erzählten es sich die Einwohner, war daran der Kirchturm von Shipden schuld, der das Leck im Schiff verursacht haben soll. Doch in Seenot geratene Schiffe und ihre glücklosen Passagiere konnten zumindest ab 1894 ganz sicher sein, dass einer der örtliche Seenotretter, Henry George Blogg, alles daran setzen würde, sie vor dem Tod im Wasser zu bewahren. In England ist Henry Blogg eine Legende. Ein Mann, der nie schwimmen lernte und sich dennoch hinter seinem Schiffssteuer furchtlos den Wassermassen entgegenstemmte.
1876 kommt Henry als unehelicher Sohn von Ellen Blogg in Cromer zur Welt. Sein späterer Stiefvater John Davies arbeitet, wie die meisten Männer im Ort, als Fischer, ist aber als Steuermann (coxswain) auch in der Lage, größere Schiffe erfahren und sicher zu navigieren. Sein Stiefsohn Henry ist erst elf Jahre alt, als er die Schule verlässt, um auf dem Krabbenfänger des Stiefvaters zu arbeiten. Damals wie heute gelten die „Cromer Crabs“ in ganz England als eine ausgesprochene Delikatesse. 1894 tritt Henry der örtlichen Seenotrettungsmannschaft bei, 1909 wählt man ihn zum Steuermann der ehrenamtlichen Seenotretter. 38 Jahre lang wird er in dieser wichtigsten Funktion zu unberechenbaren Einsätzen gerufen, die zum Kampf von Mensch gegen die Naturgewalt Meer werden. Insgesamt retten John und seine Crew bei 387 Einsätzen über 873 Menschen vor dem Ertrinken in der Nordsee. Für seine Einsätze als Steuermann erhält Henry diverse Auszeichnungen, der Prince of Wales höchstpersönlich überreicht ihm 1928 eine Goldmedaille.
1932 hat er einen seiner dramatischsten Einsätze, der insgesamt 52 Stunden dauern wird und so die Mannschaft an die absolute Grenze der Belastbarkeit bringt. Die „Monte Nevoso“ aus Italien läuft auf Grund. Verzweifelt versuchen die Retter, das Schiff mit Seilen loszuziehen und in Bewegung zu bringen, doch Stunden später droht das Schiff auseinander zu bersten. Die Crew kann gerade noch von Bord gebracht werden, doch der Kapitän und seine Offiziere weigern sich, das Schiff zu verlassen. Henry kommt zwei Mal zurück, um sie zu überreden, mit ihm zu kommen. Beim zweiten Mal findet er das Schiff verlassen vor, Kapitän und Offiziere haben sich mit einem Motorboot in Sicherheit gebracht, zurückgelassen haben sie einen großen Tiroler Sennenhund. Henry nimmt den verwaisten Hund bei sich auf und benennt ihn zum Gedenken an diesen schweren Einsatz nach dem Schiff: „Monte“. Monte wird zu seinem treuen Gefährten, bis er drei Jahre später stirbt. Im „Henry Blogg-Museum“ direkt am Hafen kann man eine Ausstellung über Cromer als maritimes Zentrum der ostenglischen Seenotrettung besuchen.
Seit der Anbindung an das Eisenbahnnetz im Jahr 1877 hat sich der Ort von einem eher verschlafenen Fischerdorf zu einem besonders bei Engländern beliebten Badeort gewandelt. Mehrere große Hotels siedelten sich an, von denen der viktorianische Koloss „Hotel de Paris“ direkt vor dem Pier den 2. Weltkrieg überdauert hat. Als Seebad bekannt ist Cromer allerdings schon seit 1795, doch durch seine abgeschiedene Lage wurde es im Laufe der Zeit nie zu einem hippen und knallvollen Brighton oder laut-geschmacklosen Blackpool, wo die Andenkenläden in den späten 1980er Jahren T-Shirts mit dem Aufdruck „Adolf Hitler World Tour 1939–1945“ verkauften. Reisende, die ein grelles 24-Stunden-Entertainment suchen, sind in Cromer eher fehl am Platz. Es ist der nostalgische Charme, der den Ort besonders macht, kein anderes Seebad in England hat zudem noch ein Theater auf dem Pier, das noch in Betrieb ist. Das „Pavillion Theatre“ ist das letzte seiner Art.
Es gibt sie noch in vielen englischen Seeorten, die klassischen Seebrücken: individuelle und nie gleichförmige Traumstege ins Meer. Manche sind dem Feuer zum Opfer gefallen, andere vegetieren als Ruine vor sich hin.
Zu Cromers Charme passt auch ganz vorzüglich eine historische Dampflok: Die „Poppy Line“ der North Norfolk Railway bringt die Fahrgäste mit lautem Getöse aus dem benachbarten Sheringham durch die grüne Heidelandschaft an der Küste entlang über Weybourne bis nach Holt und zurück. Wanderfreunde kommen in dieser Reisegegend abseits des Mainstreams ebenfalls voll auf ihre Kosten. Es gibt einen Küstenwanderweg, den „North Norfolk Coast Path“, und den „Weavers’ Way“, auf dem man in mehreren Teiletappen von Cromer bis nach Great Yarmouth wandern kann. Die erste Etappe führt an dem uralten Herrenhaus Fellbrigg Hall mit seinem riesigen verwunschenen Park und Friedhof samt Kalksteinkirche vorbei. Nach dieser Wanderung hat man sich das ein oder andere pint of lager im nächsten Pub redlich verdient.