von Ulrich Kaufmann
Johann Peter Hebel (1760–1826) habe, meint der Philosoph Ernst Bloch, die „schönste Geschichte der der Welt“ geschrieben. Er dachte dabei an dessen Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“. Darin schildert Hebel eine Greisin, die im schwedischen Falun nach 50 Jahren ihrem im Bergwerk verunglückten Bräutigam wiederbegegnet. Der „Jüngling“ war „unverwest und unverändert“, da er in „Eisenvitriol“ gelegen hatte. Kurz darauf stirbt auch sie und beide werden gemeinsam zu Grabe getragen.
Bergleute und Offiziere haben gleichermaßen einen gefährlichen Beruf. Und so erzählt uns Verena Zinserling eine ähnlich ergreifende Geschichte: Die jung vermählte Marianne Bissing verliert mit 27 Jahren, am 14. Oktober 1806, gleich zu Beginn der Schlacht bei Jena, ihren Mann, den Premierlieutnant in sächsischen Diensten August Wilhelm von Bissing. Ein Jahr später lässt sich die verwitwete Adlige aus dem Schlesischen, Mutter zweier Kinder, von Zeitzeugen in Rödigen den Ort zeigen, an dem ihr sechs Jahre älterer Gatte niedergeritten wurde. Man zeigt ihr – als Beleg für den authentischen Sterbeort – Strümpfe, die sie selbst bestickt hatte. (Alle anderen Hinterlassenschaften des Freiherren waren geraubt worden.)
Nach 51 Jahren gedenkt die, indessen Greisin gewordene, neunundsiebzigjährige Marianne, an diesen Ort zurückzukehren. Die Zugreise endet mit ihrem Tod im sächsischen Riesa. Die Freifrau wollte an der feierlichen Einweihung des von ihr in Auftrag gegebenen Denkmals (das man fortan das „Bissing-Denkmal“ nennen sollte) teilnehmen. Auf Veranlassung ihrer mitgereisten Kinder findet Marianne von Bissing neben ihrem Gatten die letzte Ruhestätte.
Verena Paul-Zinserlings Büchlein eröffnet die Reihe „Jenaer Geschichten zur Geschichte“. Von daher erklärt sich auf dem – von Jens-F. Dwars geschaffenen – Cover die „Bauchbinde“ mit den Jenaer Stadtfarben. Wunderbar wird der Leser in das Geschehen eingeführt. Eine unbekannte Frau, vermutlich von Tischbein in zarten Farben gemalt, sieht den Betrachter nachdenklich-melancholisch an. Dahinter sichtbar, das bis heute erhaltene graue, massive Denkmal, welches an den Freiherren von Bissing und gleichermaßen an die verheerende Schlacht von 1806 erinnert, die zehntausenden Soldaten auf beiden Seiten den Tod brachte. Die Pferdeliebhaberin Verena Paul-Zinserling lässt nicht unerwähnt, dass zu den vielen Opfern bei Rödigen auch „30 von Kugeln zerfetzte Pferde gehörten.“
Die Autorin, das merkt der Leser bald, ist eine ausgewiesene Archäologin und Kunsthistorikerin. Jedoch steht die historische Forschung hier nicht im Zentrum ihres Interesses, sondern die ergreifende, ungewöhnliche Geschichte der Freifrau, die Verena Zinserling, wie eine Freundin, meist mit ihrem Vornamen Marianne nennt. Die Quellenlage zu Marianne, vor allen zu ihren frühen Jahren, ist dürftig zu nennen. Umso mehr ist Phantasie und Einfühlung gefragt. In ihrem Essay nähert sich Zinserling ihrer Heldin vorsichtig, wertet sensibel. Man fühlt sich an den Erzählstil Sigrid Damms erinnert. Der berühmte Damm-Satz „Wir wissen es nicht“ findet sich auch hier.
In dem reichhaltig illustrierten Annäherungsversuch werden einige Quellen, die das Umfeld des Denkmals beleuchten, ausgiebig zitiert. Sie sind der Gartenlaube entnommen. (Diese Zeitschrift hat sich auch bei den Forschungen zu dem Jenaer Heimatdichter Wilhelm Treunert als Fundgrube erwiesen.)
Als Leser des Bändchens ist man hin und her gerissen. Denn leider hält die Autorin das hohe essayistische Niveau der ersten Hälfte nicht durch. Die Kunstbetrachtungen, die Liebe zum Detail, das genaue Hinsehen, die Deutungen sind hinreißend. Hingegen stören gegen Ende die angehängt wirkenden, mit Fremdwörtern überladenen, didaktischen Exkurse zur Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts. Es geht schlicht um die Frage, was die in der Provinz lebende Dame aus dem niederen schlesischen Landadel von der bewegten Zeitgeschichte aufnahm und verstand. Verena Zinserling treibt die Frage um, welche Momente der Literatur und Kunst Marianne rezipiert haben könnte. Hier fällt gar der Name Georg Büchners, der im Vormärz bekanntermaßen großartige Dramatik und Prosa schrieb. Gewirkt aber hat sein Werk erst etliche Jahrzehnte später.
Die Autorin des Bändchens hat den in Cospeda lebenden und eng mit dem „Museum 1806“ verbundenen Rezensenten angeregt und bereichert. Möge es vielen Lesern, auch in anderen Regionen, ähnlich ergehen. Überlassen wir dem Dichter Ludwig Uhland (1787–1862) das letzte Wort, dessen Verse das Bissing-Denkmal ergreifend schmücken. Wir zitieren nach der Fassung, die auf dem Gedenkstein steht:
„Wenn du auf diesem Leichensteine
Verschlungen siehest Hand in Hand.
Dies zeugt vom irdischen Vereine
Der innig aber kurz bestand.
Es zeugt von einer Abschiedsstunde
Wo Hand aus Hand sich schmerzlich rang
Von einem heil’gen Seelenbunde
Von einem himmlichen Empfang.“
Verena Paul-Zinserling: Marianne – Die Geschichte des Bissing-Denkmals auf den Schlachtfeldern von 1806, quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2018, 79 Seiten, 11,90 Euro.
Schlagwörter: Marianne Bissing, Schlacht bei Jena, Ulrich Kaufmann, Verena Paul-Zinserling