22. Jahrgang | Nummer 4 | 18. Februar 2019

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein wild wühlendes Wahrheitsvirus, ein bluttriefender Schottenkönig sowie eine Absteige für aufgekratzte Totalneurotiker…

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Familienkrach in Gottes eigenem Himmel – Sohnemann kontra Papa: Der habe mit seiner Erschaffung von Adam und Eva gepfuscht und es sei hohe Zeit, da nachzuarbeiten, meint Jesus in Anbetracht der zänkisch-egomanischen Schöpfung Gottvaters. Und hat auch einen Vorschlag. Nämlich die Aussendung einer ordentlich göttlichen Plage zur Erziehung und Bewährung des Menschengeschlechts. Soviel zum Vorspiel des neuen Programms im Berliner Kabarett „Die Wühlmäuse“ – Titel: „Gelogene Wahrheiten“.
Und sogleich geht’s rund auf Erden. Helle Aufregung, Staatsnotstand, eine himmlische Virus-Plage grassiert. Die Opfer vergessen eine Grundlage ihrer Zivilisation, nämlich das Lügen. Und müssen auf Anhieb das Gefährlichste überhaupt tun – immerzu und jedem die Wahrheit sagen. Mit rasender Geschwindigkeit breitet sich Chaos aus. Ehen zerbrechen, Konzernpleiten drohen, die Tagesschau muss abgeschaltet werden, Horst Seehofer will Bayern in die Unabhängigkeit führen. Das Wahrheits-Virus droht alle Welt zu infizieren und dem Untergang zuzutreiben. Ausgerechnet Angela Merkel ist es, die den Kampf gegen die globale Krankheit anführt und – erste Amtshandlung ‑ sofort eine Experten-Kommission einberuft in einen Geheimbunker unterm Potsdamer Platz; schließlich „bricht mit dem Ausbruch der Wahrheit alles zusammen“.
Doch das geht schief, alle Experten sind – böse Überraschung! ‑ verhindert. Gott sei Dank findet sich prompt Ersatz: Die rheinische Bienenforscherin Babette Beerendonk, der Neuköllner Streifenpolizist Renee Orlowski, der Psychiater Dr. Malte Hinterschuster sowie die Gleichstellungsbeauftragte für Britz-Buckow-Rudow Gundula Satzberg-Strampel.
Die tolle Truppe hat von nichts eine Ahnung, dafür nur 24 Stunden Zeit, ehe das Virus Moskau, Washington, Pjöngjang erreicht. Auch kracht es gehörig im Quartett der Weltretter unter Tage, das Gratis-WLAN fällt aus und Olaf Scholz streicht das Budget zusammen auf 56,50 Euro (plus Verpflegungspauschale).
Das für seine originell pointierte Rhetorik und Eloquenz berühmte Autorenduo Frank Lüdecke (zugleich Regie) und Sören Sieg entfesselt im Bunker ein Tollhaus, in dem quasi im Schnelldurchlauf ein Gutteil unseres gesellschaftlichen Wahn- und Irrsinns bloßgestellt wird. Sei es die internationale oder lokale Politik, die Bundeswehr, die Verwohnungsbaugesellschaften, Pegida-Schlagida, die Pflege, die Kirchen, Schulen, Parteien, die Inklusion, das Gendern oder Nachrichten-TV – es ist wirklich allerhand, was da eins mit Wucht und Witz auf den Deckel kriegt. Das ist bestens gemachtes Polit-Kabarett.
Wie es ausgeht mit der Invasion vom Wahrheits-Virus, bleibt hier vorsichtshalber Geheimsache. Als Rausschmeißer aus dem Verwirrspiel mit Lügen und Wahrheiten donnert ein schmissig gemischter Chor: „Wahrheit ist Mangel an Fantasie, Tugend Mangel an Gelegenheit. Allen alles wollen nur intelligent Beschränkte erzählen, wir können das nicht empfehlen…“ Da sind wir, hart gelandet (wie gereimt), wieder beim ewig Menschlichen. Da grinst der Liebe Gott und kratzt dennoch sich ärgerlich am Hinterkopf.

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Drei freilich großartige Spieler allein machen im Burgtheater zu Wien William Shakespeares Schotten-Schocker „Macbeth“: Christiane von Poelnitz (Hexe/Lady Macbeth), Ole Lagerpusch (Hexe/Mister Macbeth) und Merlin Sandmeyer (Hexe/Banquo). Drei, das war Untergrenze. Wegen des orakelnden Weiber-Terzetts, des mörderischen Ehepaares sowie des konkurrierenden Kollegen Banquo, der zudem noch ein paar Sätze von Duncan und Lady Macduff zitiert, was man dem Besetzungszettel entnimmt.
Es mag ja sein, dass dem Unkundigen diverse Details der ohnehin kürzesten Shakespeare-Tragödie in dieser noch viel kürzeren, nämlich auf gerade mal hundert Minuten gestrafften Fassung, verborgen bleiben. Was aber unheimlich rüberkommt in Antú Romero Nunes‘ Inszenierung dieses Shakespeare-Konzentrats, ist die Suggestion einer tiefen, unser Dasein peinigenden Ungeheuerlichkeit. – Dem machtgierigen Ehrgeiz, der geilen Leidenschaft folgt die grausame, wahnhaft Wirklichkeit ignorierende Tüchtigkeit, der unendliche Blutrausch und darauf die dauerhafte Gewissensqual und Angst, was nicht auszuhalten ist, was krank macht, irre, und in die Selbstvernichtung zwingt. Nunes gießt dieses Finale elenden Verreckens in ein starkes, abstrakt-monumentales Bild, gestützt auf Chorgesang (der Wiener Kinderchor The Vivid Voices) und Orchestermusik (die Herren Blechbläser von Post und Telekom Musik Wien).
Der Nachhall aus dem schottischen Jammertal ist eine Art Requiem. Klage und Trauer bezüglich der Menschen Hybris, die da immer und immer wieder (bis in unsere Tage) explodiert und alle Menschheitsordnung bricht. Gesang als letztes Wort, als Pointe auf den so unheimlichen, von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens schlagend schön, poetisch mächtig übersetzten Text. „Nichts ist, als was nicht ist“, röchelt die Lady, überströmt von Theaterblut. „Ich hab die Sonne langsam satt und will, dass diese Welt ihr Ende hat.“ – Es ist ihre Welt, ist ihre Sehnsucht nach dem erlösenden ewigen Schlaf. Doch gemeint ist – wir schrecken auf ‑ unsere Welt und unsere Sehnsucht. Dafür steht schon das Bühnenbild von Stéphane Laimé: Der frappierend detailgetreue, spiegelbildliche Nachbau des Zuschauersaals. ‑ Dann der Schluss mit Musik, der kindliche Singsang, schwarzer Vorhang, Erschütterung im Publikum. Dann Bravo-Orkan.

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Im Gegensatz dazu Simon Stones üppig wuchernde Drei-Stunden-Paraphrase auf Motive aus Strindberg-Stücken „Hotel Strindberg“. Erst in Wien, jetzt in Basel und demnächst im Mai zum Theatertreffen in Berlin, Stones nunmehr dritte Einladung als gefeierter „Meister der Überschreibung“.
Die Bewohner vom Stone-Hotel („Strindberg“ steht bloß auf der Werbung) sind selbstredend mit Witz und Schärfe aus dem Alltag von heutzutage gegriffen. Ein Ensemble erstklassiger Spieler; allen voran Caroline Peters (gerade jetzt im Kino als sarkastische, genervt liebende Familienmutti in „Womit haben wir das verdient“). Ihr dicht auf den Fersen in den Hochhackigen Martin Wuttke, höchstgradig psychogestört, immer mit irgendwas auf Droge. Dazu Roland Koch, Michael Wächter, Aenne Schwarz. Die Bühne (Alice Babidge) besteht aus gestapelten Zimmern gleich einem Puppenhaus, seine höchst neurotische Belegschaft steht im großen allgemeinen Psychokrieg. Zwar fließt kein Blut, aber jede Menge Schweiß und Tränen im verzweifelten Ringen um ein bisschen Glück im kurzen Leben. Beglückende Kunstfertigkeit, voll von Wahn und Unglück.