22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019

Die Verostung des Westens

von Stephan Wohanka

Eine gute Freundin noch aus Schülertagen hatte kürzlich zum Essen eingeladen. Es gab Thüringer Rotkraut und ebensolche Klöße, Wildragout mit Backpflaumen – Hirsch und Pflaumen kamen aus der Lausitz; mit einem Wort: östlich, köstlich. Das folgende Gespräch bei mäßigem Weingenuss drehte sich, nachdem das Persönliche gesagt war, bald ums Politische. Und schnell fiel das Wort von der „Verostung des Westens“: Vieles im politischen Raum erinnere seit geraumer Zeit an DDR-Praktiken.
Nun kann man beileibe nicht behaupten, der Slogan von der „Verostung des Westens“ wäre neu; schon 2007 fragte ein ZEIT-Artikler unter ebendieser Titelzeile: „Woran erkennt man gute Reklame? Wenn sie in Ostdeutschland positiv aufgenommen wird, funktioniert sie auch im Westen. Das sagt zumindest eine neue Studie“. Aha. Oder Henryk M. Broder stellte fest: „Während der Westen noch die ‚friedliche Revolution‘ feierte, … nahm die ‚Verostung‘ der alten Bundesrepublik ihren Lauf. Die diffuse Idee der sozialen Gerechtigkeit, die Vorstellung, Gleichheit sei wichtiger als Freiheit, die Ablehnung des Leistungsprinzips und der individuellen Verantwortung zugunsten einer gesellschaftlichen Haftung, die Forderung nach ‚Umfairteilung‘ und einem bedingungslosen Grundeinkommen sind allesamt Kollateralerscheinungen der ‚Verostung‘.“
Die Chiffre, die in den letzten Jahren politisch prägend war, war die der Merkelschen „Alternativlosigkeit“. Auch wenn die Kanzlerin den Begriff jetzt meidet, war und ist eine Politik unter diesem Rubrum – ob ausgesprochen oder nicht – eine der Ideenlosigkeit respektive der nur einen Idee, die ohne Befragung von Varianten als allein Wirkungsmächtige angesehen wird. Zeigt die Geschichte jedoch nicht eindeutig, dass bis dato jede Politik scheiterte, die desgleichen nur eine Idee, ja Ideologie bediente, die als die allein seligmachende galt?
Es ist Unfug, Merkels Politikansatz wie schon seit Längerem an ihrer ostdeutschen Herkunft, gar an ihrer FDJ-Mitgliedschaft festzumachen. Eine führende deutsche Tageszeitung leitete 2009 den Artikel „Die Ossifizierung des Westens: Deutsche deprimierende Republik“ mit folgenden Worten ein: „Nein, man kann nicht alles, was heute an Deutschland nervt, auf den lähmenden Einfluss der Duckmäuserossis zurückführen. ‚Aber was eigentlich nicht?‘, fragt der Schriftsteller Maxim Biller in seiner Polemik gegen die moralische und wirtschaftliche ‚Ossifizierung‘ Deutschlands“. Biller dann selbst: „Und es gibt eine ewig zögernde, ängstliche, immer nur auf die Schwächen ihrer Feinde und Freunde lauernde Kanzlerin, die in den alten DDR-Angsttagen FDJ-Sekretärin für Propaganda und Agitation war und heute sagt: ‚Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Bevölkerung sich eine moralisch erhabene politische Klasse wünscht, die völlig anders als sie selbst ist‘.“ Die Junge Freiheit kommentiert darauf, Merkel sei „nicht in der CDU verwurzelt“ und schreibt weiter, dass „die FDJdisierung der CDU einen neuen Höhepunkt erreicht hat. Anläßlich des Weltfrauentags hatte der Oberkomsomolze Ronald Pofalla (damals Generalsekretär der CDU – St.W.) verkündet: ‚Der Weltfrauentag ermahnt uns dazu, diesen Weg engagiert weiterzugehen‘. Die CDU ist jetzt also für den Weltfrauentag. […] (Es) handelt sich beim Frauentag um ein marxistisches Propagandaspielzeug […] Im Westen war das ein absolutes Nicht-Ereignis. Wahrscheinlich wissen Merkel (zu ostig) und Pofalla (zu jung) das nicht und verbreiten deswegen solchen Unsinn.“
Tatsächlich hat die Bundespolitik unbeeinflusst vom „Osten“ – wodurch sollte er das auch bewirkt haben? – ihre eigentlich pluralistische Anlage peu a peu drein gegeben zugunsten einer vermeintlichen „Unausweichlichkeit“; das andere Wort für Alternativlosigkeit. Wenn das „Verostung“ sein sollte, dann ist diese einer Großen Dauerkoalition geschuldet – der ideellen in der politischen „Mitte“ und dieser folgend, der faktischen aus CDU/CSU und SPD. Hier liegt die Verantwortung dafür, dass die Streitkultur im politischen Raum weithin ausgesetzt wurde, dass der Oppositionsmechanismus – Rede und Gegenrede, Meinung und Alternative – verkümmerte, dass der belebende Widerstreit unterschiedlicher Sichtweisen und Perspektiven berechenbaren Parolen („Schwarze Null“) wich. Das mag an den „Osten“ erinnern; erstaunlicher jedoch: Diese Politikergeneration hat den selbstverschuldeten Untergang des Sozialismus vor Augen, der, ähnlich, einer einzigen Idee, mehr noch – einer deterministischen Geschichtslogik huldigte …
Alternativlos? Höre ich das Wort, habe ich immer Rudolf Bahros Buch „Die Alternative“, 1977 erschienen, vor Augen. Sein Autor saß bekanntlich dafür in Bautzen ein. Bahro entwarf gegen das damals in der DDR herrschende zentralisierte Planungs- und Administrationssystem, die politische Entmündigung der Menschen, das gegenseitige Sich-in-die-Tasche-Lügen, die Weigerung, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen sowie die Verletzung simpler ökonomischer Sachverhalte einen demokratisch-ökologischen Gegenentwurf, ja eine Utopie; bekanntlich vergebens. Namentlich Bahros zentraler Begriff von der „organisierten Verantwortungslosigkeit“ traf den Kern der Sache; ob nur damals?
Variiere eben aufgeführte Tatbestände etwas und adaptiere sie an heutige sozialpolitische Gegebenheiten – schon scheint die gegenwärtige gesamtdeutsche Wirklichkeit auf: Die Entscheidungsfindung in der herrschenden Koalition ist permanent in Selbstblockaden gefangen, auch zwischen Bund und Ländern („Föderalismusdebatte“), der Begriff für die neue Entmündigung der Menschen ist geradezu die „Alternativlosigkeit“, selbsterhaltende Interessen des Apparats, der Parteien und auch einzelner Politiker prägen (zu) häufig den politischen Alltag. Das und mehr führt zu Entscheidungen, die ohne gebührende Abschätzung der Zweit- oder Drittfolgen getroffen werden. Oft werden nicht die wichtigen und dringlichen Probleme angepackt, sondern diejenigen, für die gerade ein Lösungsansatz vorliegt oder für die die politische Opportunität spricht. Zentrale politische Aufgaben wie Verkehr, Klima, Digitalisierung, Wohnungsbau oder Folgen der Demografie bleiben seit Jahren liegen.
Politik ist Menschenwerk. Mit allen Stärken und Tugenden, aber auch Schwächen und Fehlern, die uns eigen sind. Manch demokratisch gewählter Politiker gleicht in Habitus und Selbstherrlichkeit einem (sozialistischen) Autokraten. In der Regel sind Erstere zwar nicht (mehr) für das Wohl oder Wehe ganzer Gesellschaften zuständig und sterben auch nicht mehr in den Sielen ihrer Unersetzbarkeit, sondern können – manchmal zu spät – abgewählt werden. Namentlich politisch beeinflussbare Entscheidungs- und Steuerungsprozesse bieten heute Politikern die größten Bühnen – wie etliche Großprojekte zeigen. Desgleichen mit desaströsen Folgen, nur – wie gesagt – auf untergeordneter Ebene. Ein Paradebeispiel dieses Politikertypus‘ ist Klaus Wowereit, Ex-Bürgermeister Berlins. Kraft seines politischen Mandats zog er Vorgänge und Entscheidungen an sich, ohne die sachliche Kompetenz zu haben und flüchtete sich dann – ja wohin wohl? – in die Schuldlosigkeit. Oder volkstümlicher: Erst die Berliner Schnauze voll nehmen und dann weg wie’s Würstchen vom Kraut. Wowereits „Projekt“: Der BER, der bis heute nicht in Betrieb genommene Berliner Flughafen, dessen Eröffnung noch unter seiner Ägide schon einmal für den Juni 2012 geplant war. Nicht zu Unrecht gilt Wowereit als Hauptschuldiger für das finanzielle Desaster und den Imageschaden. Er selbst sieht das erwartungsgemäß anders, er sei ja nur Aufsichtsratschef gewesen und habe „nicht geschraubt“. „Wenn man (Wowereit – St.W.) so zuhört, kommt einem das bekannt vor, das Von-Sich-Weisen jeder Schuld. Wowereit hat wahrscheinlich das Copyright auf das Verantwortungspingpong, das in der Hauptstadt bis heute gern gespielt wird“, meinte die Berliner Journalistin Sabine Rennefanz nach einem Gespräch mit dem nunmehrigen Buchautoren im Mai 2018. Mehr Bahro geht nicht. Vorher hörte Wowereit sich noch so an: „Zur Not bauen wir eben selbst“ und „nebenbei […] könnten wir mit dem Gewinn auch noch die Stadtkasse sanieren“. Eine Studie zum BER-Fiasko sieht es so: „Hier hätte die Alternative beispielsweise darin gelegen, die Akquise von privatem Kapital als Entscheidungshilfe über die Durchführung eines Projekts heranzuziehen“.
Die unsägliche „Koalition der Mitte“ muss wieder politischem Streit in der Sache Platz machen. Nicht Alternativen fehlen, sondern der Wille, klar zu sagen, wo Vor- und Nachteile von Lösungen liegen, um so Menschen Einsichten in politische Abwägungen zu gewähren. Entscheidungen, die am Ende alle zufriedenstellen, kann es nur selten geben.