22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019

Was nun?

von Max Klein, Liverpool

In der irrtümlichen Annahme, am 14. Januar erschiene die nächste Blättchen-Ausgabe, sandte uns der Autor diesen Beitrag am 12. Januar zu – drei Tage vor dem krachenden Scheitern Theresa Mays und ihrer mit der EU ausgehandelten Brexit-Vereinbarung im britischen Unterhaus. Am Folgetag floppte die Labour Party mit einem Misstrauensantrag gegen die May-Regierung ebenso. Beides hatte Max Klein erwartet.
In einer Nachbemerkung rekapituliert er die Entwicklung seither.

Die Redaktion

Wenn man in England lebt, dann erlebt man eine Insel mit eher ungebrochener Tradition, die etwa die gegenwärtigen, dramatischen Entwicklungen im Parlament mit nichts weniger als der „Glorreichen Revolution“ von 1688 vergleicht. Dankte damals James II. ab, wird das Königshaus heute immer charmanter. Im 19. Jahrhundert war man eine Weltmacht. Das Land ist nach allen Richtungen von Wasser umgeben, im Norden ist Schottland und im Westen liegt die Insel Irland. Man fährt links, hat eine Passkontrolle und mit dem Pfund eine eigene Währung. Man kann schon fragen, wo dieses Land heute eigentlich hingehört.
Wahrscheinlich, denn sicher ist kaum etwas mehr, stimmt das Unterhaus des Vereinigten Königreiches (UK) am 15. Januar 2019 über den Entwurf einer Übereinkunft zwischen der Regierung von Theresa May und der Europäischen Union ab, eine Übereinkunft, in England „May Deal“ genannt, die den Austritt Großbritanniens aus der EU vorbereiten soll. Wahrscheinlich wird das Parlament diesem Vertrag nicht zustimmen. Das ist ein nicht gewöhnlicher Vorgang.
Ein Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der Brexit, schafft eine Grenze zwischen UK und EU. Damit widerspricht er strukturell der Vereinbarung von Belfast vom April 1998, dem „Good Friday Agreement“ (GFA), das Frieden in Nordirland herstellte, nach langer bewaffneter Auseinandersetzung. Die Vereinbarung berücksichtigte, dass eine Mehrheit der Nordiren zu Großbritannien gehören wollte und sehr viele sich ein einheitliches Irland wünschten. Es war ein Balanceakt, der durch ein Referendum in der Irischen Republik und in Nordirland, nur fünf Wochen nach Vertragsunterzeichnung, eindrucksvoll bestätigt wurde.
Die Regierung Cameron musste seinerzeit wissen, dass der Versuch, Nordirland, als Teil des UK, aus der Europäischen Union zu lösen, alle irischen Sensibilitäten wieder neu beleben würde. So kam es dann auch, in zwei Jahren Verhandlungen fiel den am „May Deal“ Beteiligten nichts Anderes ein, als das Problem Nordirland zu vertagen. So kam man auf den „Backstop“, der besagt, dass Großbritannien in der Zollunion mit der EU verbleibt, falls es keine andere Lösung gibt. Bisher ist auch niemandem eine eingefallen …
War das Problem von vornherein evident, bekam es machtpolitische Bedeutung, nachdem Theresa May bei dem Versuch scheiterte, ihre Macht in einer vorgezogenen Wahl im Juni 2017 auszudehnen, was ihr offenbar über Ostern eingefallen war. Gegen den Rat von John Major, ehemals Premier im UK, der auf das „Good Friday Agreement“ hinwies, ging sie eine Koalition mit der nordirischen DUP ein, der „Democratic Unionist Party“, die seinerzeit gegen das GFA und im Jahre 2016 für den Brexit war. Die DUP hat sich mehrfach und deutlich gegen den „May Deal“ ausgesprochen, das heißt, die Tory Regierung hat keine eigene Mehrheit im Parlament, um diese Vereinbarung bestätigt zu bekommen.
Eine nicht kleine Anzahl von Extremisten, angeführt von Jakob Rees-Mogg, dem man die Erinnerung an das viktorianische Zeitalter ansieht, und von Boris Johnson, den Theresa May zum Außenminister machte, obwohl er die EU mit Napoleon und Hitler verglichen hatte, behauptet, der Austritt aus der EU ohne Vertrag („No Deal“) käme dem Willen des Volkes am Nächsten. Viele Mitglieder des Parlaments wollen aber in der EU verbleiben. Da schließlich Labour alles tun will, um die Regierung May abzulösen, ist es aus all diesen Gründen wahrscheinlich, dass die Abstimmung am 15. Januar negativ für die May-Regierung ausgeht. Trotzdem sollte man sagen „wahrscheinlich“, da sich die Politik des Landes im Ausnahmezustand befindet, und jede Verhandlung von nationalistischen Themen immer auch irrational ist.
Ehe man fragt, was nun, mögen ein paar Dinge noch gesagt werden. In einem Kommentar der Tagesschau in der vorigen Woche wurde im Zusammenhang mit diesen Ereignissen von einer Krise der Demokratie gesprochen. Eigentlich ist es jedoch gerade eine beachtliche demokratische Entwicklung, die sich der Unfähigkeit der Regierung entgegenstellt. May hatte vor, die Verhandlungen mit der EU ohne das Parlament zu beenden. Dagegen stellte sich eine Bewegung, angeführt von der Londoner Anwältin und Autorin Gina Miller, die einen Beschluss des Obersten Gerichts („High Court of Justice“) erwirkte, der im Januar 2017 die Hoheit des Parlaments in der Brexitfrage sicherstellte. Vor Weihnachten und besonders in diesen Tagen zeigt sich die Auswirkung dieser Verfügung: Auf Vorschlag der Labour Abgeordneten Yvette Cooper sowie unter Mitwirkung auch von prominenten Tory-Abgeordneten nahm das Parlament der Regierung die Freiheit, im Hinblick auf einen „No Deal“ nach Belieben mit den Finanzen zu jonglieren. Einen Tag später wurde die Regierung auf Vorschlag des Ex-Generalstaatsanwalts und Tory-Abgeordneten Dominique Grieve verpflichtet, im Fall einer Niederlage am 15.1. innerhalb von drei Tagen einen Plan B vorzulegen. Beide Akte kann man als ermutigende Zeichen einer funktionierenden Demokratie bezeichnen. Wo hat man schon den Fall, dass eine Regierung durch eine Allianz von Vertretern der eigenen Partei solchen der Opposition eines Besseren belehrt wird?
Abgesehen von der liberalen Partei, deren Vorsitzender Vince Cable den Brexit „Madness“ (Irrsinn) nennt, ist die Politik aber im Übrigen ersichtlich kopflos. Das gilt leider auch für Labour, deren Parteiführer Jeremy Corbyn, bis vor kurzem ein geachteter Vertreter einer sozial gerechten Politik, sich uneinsichtig verrannt hat. Er behauptet, unlängst wieder in einer Rede in Wakefield (West Yorkshire) am 10.1., Labour könne eine fällige Neuwahl gewinnen, dann mit der EU neu und besser verhandeln, um einen freundlicheren Brexit zu erreichen, und schließlich soziale Gerechtigkeit unabhängig von den Regeln der EU herstellen. Drei Illusionen hintereinander. Corbyn hatte dies vor Weihnachten schon einmal erklärt. Damals schrieb mir Barry King, ein vor einigen Tagen plötzlich verstorbener Freund, Corbyn hätte soeben die nächste Wahl verspielt und Millionen ermutigt, die Partei und Bewegung zu verlassen, die gerade ihn, Corbyn, groß gemacht habe. (Barrys Leben und Schicksal machte uns deutlich, dass Brexit ein die Herzen aufwühlendes Thema ist.)
Corbyns Plan kann nicht funktionieren, wie auch Timothy Garden Ash im Guardian vom 11.1. erklärte. Neuwahlen stehen erst im Jahre 2020 an. Und warum sollten selbst jene Tories, die zurzeit gegen den „May Deal“ mit Labour stimmen, Labour zur Macht verhelfen?
Es ist gewiss so, dass Theresa May unfähige und illoyale Brexit-Minister hatte, die sich davon machten, David Davis und Dominique Raab, was sich auch darin zeigt, dass schlussendlich nur noch sie selbst verhandelte, immer hektischer. Das eigentliche Problem jedoch ist die enge Verzahnung der britischen Wirtschaft und Gesellschaft mit der EU. Diese könnte auch ein Corbyn-Team nicht ignorieren, abgesehen davon, dass der Wunsch der 27 EU-Staaten, mit dem Inselvolk die Verhandlungen in der Sache wieder aufzunehmen, im besten Fall schwach entwickelt ist, wofür es nicht nur prozedurale Gründe gibt.
Es gibt die Auffassung, wie in der vorangegangenen Blättchen-Ausgabe vertreten, sonderbarerweise unter Verweis auf das Jahr 1940, die EU und Deutschland insbesondere hätten flexibler und großzügiger auf die UK-Wünsche eingehen sollen. Man fragt sich allerdings aus der Sicht eines Deutschen in England, warum und wie sie das hätten tun sollen. Das Ergebnis bewegt sich entlang der von May gezeichneten roten Linien. Wie hätte die EU in Sachen Nordirland anders verfahren sollen? Schon Cameron fuhr immer nach Brüssel mit dem erklärten Ziel, „a better deal for the UK“ erreichen zu wollen. Gewisse Kreise in diesem Land verharren in überkommener Arroganz. Man hat wenig gehört von der Absicht des UK, die EU besser machen und mehr stützen zu wollen.
Eine EU, die der Entwicklung des Vereinigten Königreichs doch nicht im Wege stand – im Gegenteil: die eine Million polnischer Arbeiter war doch strukturell willkommen.
Eine EU, die Frieden in Europa bedeutet, was in der egoistischen Debatte um „a better deal“ oder in der Postwurfsendung Camerons vor dem Referendum an alle Haushalte nicht vorkam.
Eine EU, die dem Land den Finanzplatz London zugestand, die viele lokale Projekte förderte und mehr Mittel für die UK-Wissenschaft bereitstellte, als das Land einzahlte.
Aus der Sicht vieler nachdenklicher Menschen hierzulande ist der Brexit der falsche Weg, diese Inseln entwickeln und die EU reformieren zu wollen. Nicht ausgeschlossen, dass Schottland sich von England trennt, auch dieser alte Konflikt war bisher einigermaßen gut aufgehoben in einer Union europäischer Staaten. Die Idee schließlich, um noch einmal auf Corbyn zu kommen, man könne außerhalb der EU eine gerechtere, sozialere Gesellschaft errichten, ist bestenfalls eine schöne Illusion, welche die doch existenten europäischen Regeln etwa zum Arbeitsrecht, zum Umweltschutz und eben auch zur Freizügigkeit ignoriert oder geringschätzt. Trumps Mauer und der Brexit, den Corbyn noch immer unterstützt, haben eines gemein, sie sind protektionistisch, allein gerichtet auf das (falsch verstandene) Wohl der eigenen Nation.
Das Paradies kann man innerhalb von Mauern jedoch nicht errichten, das weiß auch Angela Merkel aus eigener Anschauung. Warum also hätte sie mehr als Respekt entwickeln und Theresa May auf deren Irrweg auch noch helfen sollen? Man hätte doch sehr wohl sagen können, von vornherein, dass eine historische Neuausrichtung in einem, übrigens nicht bindenden, Referendum, eine Zweidrittelmehrheit erfordert hätte, statt diesen bizarren Vorgang zu einem verpflichtenden Votum des Volkes zu erklären.
Der Brexit fand eine denkbar knappe Mehrheit in einer Atmosphäre der Unzufriedenheit mit der Regierung Cameron, in einem Land mit großen und wachsenden sozialen Konflikten. Die „Leave“-Kampagne wurde getrieben von finanzstarken, demagogisch talentierten Kräften, die die eben nicht sozialen neuen Medien benutzten und eine Boulevard-Presse, die bekannt war und ist für eine jeder Aufklärung abgeneigte Haltung.
„Wir wollen die Kontrolle zurück“, so erklärten die Brexetiers permanent, und auf dem roten Bus von Boris Johnson stand in großer Schrift, dass das UK pro Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel überwiese, womit man besser das Nationale Gesundheitswesen finanzieren sollte. Das klang doch vernünftig. Tatsächlich war der Bus eine Meisterleistung in populistischer Demagogie, der Text eine ungeheuerliche Vereinfachung komplexer politischer Zusammenhänge und eine Dummheit noch dazu, wie erneut klar wurde, als vor Weihnachten die trüben Post-Brexit-Aussichten der ökonomischen Entwicklung des Landes durch die Bank von England und andere Institutionen vorgerechnet wurden.
Was also nun tun?
In Zeiten wie diesen, die manchmal an 1989/90 erinnern, sind Vorhersagen besonders gewagt. Der Grieve-Antrag verpflichtet die Regierung, im Falle des Scheiterns der Parlamentsabstimmung innerhalb von drei Tagen, also Montag, den 22. Januar, einen neuen Plan vorzulegen. Noch vorher ist zu erwarten, dass Labour einen Misstrauensantrag gegen die Premierministerin stellt, der wenig Aussicht auf Erfolg haben wird.
Im Land insgesamt gibt es eine offenbare Mehrheit gegen den Absturz in die Ungewissheit, den der ewig lächelnde David Davies im Spiegel als „beherrschbar“ bezeichnet hat. Warum nur hat er eigentlich zusammen mit Michel Barnier dann überhaupt verhandelt? Man möchte also hoffen, dass ein „No Deal“ durch das Parlament verhindert wird.
Man vermutet, dass nach einem Scheitern der Abstimmung britischerseits versucht werden wird, den Zeitpunkt der formalen Trennung gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages über den 29. März 2019 hinauszuschieben. Da müsste die EU jedoch mitspielen. Doch selbst wenn, was dann?
Es gibt eine Reihe von Modellen, wie das norwegische, die nun bemüht werden. Es ist merkwürdig, dass dies zu einem Zeitpunkt geschieht, da die Verhandlungen mit der EU beendet sind. Vielleicht hat Davies im Jahre 2017 versucht, Alternativen auszuloten, vielleicht scheiterten die an Mays roten Linien, etwa der Absicht, die Zollunion mit der EU aufzulösen. Doch den Versuch von Verhandlungen über andere Modelle bekäme die Regierung May wohl nicht zustande, nimmt man an – in einer Situation, da nichts unmöglich ist. Und schließlich: Ist Großbritannien erst mal draußen, könnte es nach Artikel 49 irgendwann vielleicht auch wieder rein.
Nicht wenige aber fordern ein erneutes Referendum. Dies wäre die einzige nicht unrealistische Möglichkeit, in der EU zu verbleiben. Es ist auch der einzige Weg, einem „No Deal“-Szenario Autorität zu geben, was das Parlament zu Recht verweigert. Theresa May behauptet, es bliebe keine Zeit, ein weiteres Referendum abzuhalten. Sie sah allerdingsr kein Problem darin, ihre „Snap Election“ im Frühjahr 2017 durchzuziehen …
Vor kurzem fuhr ich zweimal Taxi. Der eine Taxifahrer meinte, ein zweites Referendum wäre eine Nichtachtung der Demokratie. Der andere Fahrer erklärte, erst jetzt wisse man ja, was ein Brexit eigentlich bedeute, und man solle daher ein zweites Referendum abhalten. Schneider und Friseure in Liverpool erklärten die ganze Brexit-Idee für Unsinn und hofften, sie würde verschwinden. Es ist ja nicht so, dass nur Intellektuelle klarsähen, „das Volk“ hat seinen eigenen Verstand.
Die Lage ist ernst, das Land gespalten, das Oberhaus der Lords schweigt gegenwärtig, die Königin rät zur Vernunft, Gina Miller bekommt Morddrohungen, Anna Soubry, eine konservative „Remain“-Abgeordnete, wird „Nazi“ genannt. Es gibt Gewalt gegen „Remain“-Aktivisten. Jo Cox, eine Labour Abgeordnete, wurde mit dem Ruf „Britain First“ schon im June 2016 ermordet.
Die Tory Partei hat in ihrer zügellosen Fokussierung auf sich selbst das Land in diesen Unfrieden versetzt. Die Labour-Führung glaubt bis heute, die Zukunft liege in einer isolierten Insel. Man kann nur hoffen, dass das interfraktionelle Zusammenwirken im Parlament den Weg weist zu neuen Formen der Politik, wie sie seinerzeit im kleineren deutschen Staat an runden Tischen stattfand. Der Guardian hat die Idee eines Volkskongresses ins Gespräch gebracht.
In jeder Krise liegt auch eine Möglichkeit, die Zukunft neu zu gestalten, vielleicht auf dem Weg zurück, in die zu reformierende EU, die dem Kontinent den Frieden weiter bewahren möge, hin vielleicht zu einer anderen Art des Zusammenlebens, die in historischen Umbrüchen entstehen mag, ohne dass wir sie fest beschreiben könnten.
England, Schottland, Irland sind durch schwierigere Umbrüche gegangen. Wir haben seit mehr als zehn Jahren das Land offen, tolerant und freundlich erlebt, der „Common Sense“ ist nicht erledigt.
Möge es so bleiben.

Liverpool, 12. Januar 2019

Nachbemerkung

In dramatischen Zeiten wie diesen lernt man schnell, ob Erwartungen richtig sind oder nicht. Am Montag, den 14.1., wandte sich das Oberhaus (House of Lords) mit 321 zu 152 Stimmen gegen Theresa Mays mit Brüssel ausgehandelten Brexit-Deal, der „der zukünftigen ökonomischen Prosperität, der inneren Sicherheit und dem globalen Einfluss Großbritanniens Schaden zufügen würde“ – ein Beschluss, der am Vortag des Votums im Unterhaus öffentlich kaum Beachtung fand.
Am Dienstag, den 15.1., verliert May die Abstimmung mit 432 zu 202 Stimmen gegen drei große Gruppen von Parlamentariern, die nur die Ablehnung des „May Deals“ eint – jene, die ohne Vertrag die EU verlassen wollen, solche, die in der EU verbleiben wollen, und andere, die diesen Vertrag als unannehmbar betrachten, oft wegen der Backstop-Formel. Es ist der große Tag von John Bercow, der als Speaker das Unterhaus seit 2009 leitet, und der seine Rolle, die ihm erlaubt, Anträge aufzurufen oder eben auch nicht, souverän ausübt. Ian Blackford, der leitende Vertreter der Schottischen Nationalpartei (SNP) in Westminster, erklärt, „der Tag wird bald kommen, da Schottland abstimmen wird, um seine Unabhängigkeit vom übrigen UK zu erklären“.
Am Mittwoch, den 16.1., übersteht Theresa May mit 325 zu 306 das insbesondere von Labour-Führer Jeremy Corbyn angestrengte Misstrauensvotum. Marina Hyde, höchst bemerkenswerte Kolumnistin des Guardian, schlägt entgeistert vor, man könne ja zur absoluten Monarchie zurückkehren „mit der Königin oder auch David Attenborough“ an der Spitze. Der britische Humor lebt noch. Theresa May, jetzt nachdem Corbyn sie wie erwartet stabilisiert hat, erklärt abends, vor ihrem Haus „No 10“ stehend, was sie zu tun gedenke: „Put the national interest first and deliver on the referendum.“ („Das nationale Interesse an die erste Stelle rücken und das Referendum umsetzen.“) Es klingt wie „America First“.
May schlägt nun, man mag es nicht fassen, Gespräche mit „erfahrenen Parlamentariern“ vor, nicht ohne zu erklären, dass sie an ihren roten Linien festhielte, zum Beispiel keine Absicht hätte, von einer Brexit-Verschiebung nach Artikel 50 Gebrauch zu machen. Als Corbyn sie auffordert zu erklären, dass sie „No Deal“ ausschließe, lehnt sie das ab.
Ganz offenbar weiß May nicht, wohin und mit wem sie gehen soll, auch ihr Kabinett ist zerstritten. Ganz offenbar aber ist Corbyn ebenso wenig bereit, nun klar Position für einen Verbleib in der EU zu beziehen, was eine riesige Mehrheit von Labouranhängern will, nur eben nicht alle, und eben auch er selbst nicht.
Sowohl Tory- als auch Labourführung sind wie gelähmt im Angesicht der historischen Herausforderung, haben vor allem Angst, Macht zu verlieren, die ihnen womöglich vollständig abhandenkommen könnte. Die Opponenten sind unfähig sowohl zu einer großen Koalition wie auch zur Einberufung einer nationalen Versammlung. Das Parlament müsste sich erneut selbständig machen, wie im Fall der Anträge Coopers und Grieves.
Derweil gibt es keine Anzeichen dafür, dass Mays Plan B, der am 21. Januar verhandelt werden soll, sich vom gescheiterten Plan A hinreichend unterscheiden würde, um im Parlament Erfolg zu haben.
Da die Zeit für eine geregelte Lösung dieses Gordischen Knotens nun erkennbar knapp ist, wird es in unserem Gastland zunehmend ungemütlich, nicht zuletzt für uns, die 3,5 Millionen nichtbritischen Europäer, die von einer ersichtlich überforderten Regierung allenfalls, aber nicht immer nur freundliche Worte gehört haben, deren Rechte am 29. März jedoch zur Disposition stehen.
Waren die Ereignisse der letzten Tage noch vorhersagbar, sind es die der folgenden eher weniger. Vernünftig wäre die Vorbereitung eines zweiten Referendums. Mit dessen im Übrigen ja nicht sicher vorhersagbarem Ergebnis müssten dann wohl alle leben. Die letzte rationale Hoffnung dabei ist, dass dann eine Mehrheit das Thema Brexit würdevoll beerdigt, auch wenn das Land damit nicht befriedet wäre. Das hat, da ist Corbyn völlig Recht zu geben, eine soziale Wende bitter nötig.
Derzeit breiten sich zunehmend Sorge und Unruhe aus. Der Evening Standard, bei dem auch Ex-Finanzminister und Cameron-Freund Georg Osborne tätig ist, berichtet über die mögliche Einberufung von Reservisten.
Auf dem Spiel stehen die Zukunft und die Einheit des noch Vereinigten Königreichs.
Man wird dann, wenn der Ausgang dieses Dramas bekannt sein wird, wohl lange brauchen, um zu begreifen, warum diese Zeit überhaupt kam. Es begann als Camerons Spiel und ist heute bitterer Ernst von europäischer Bedeutung.

Liverpool, 19. Januar 2019