von Bettina Müller
1938 hat die perfide Strategie der Nationalsozialisten, die noch im Land verbliebenen jüdischen Ärzte „auszuschalten“, ihren Höhepunkt erreicht. Per Reichsbürgergesetz entzieht man ihnen Ende September ihre Approbation. Das Einzige, was ihnen jetzt noch bleibt, ist die Behandlung ausschließlich jüdischer Patienten als so genannte „Krankenbehandler für Juden“. Ihre Arbeitskraft müssen sie dafür unentgeltlich zur Verfügung stellen. Im Oktober 1938 sind es circa 700 jüdische Ärzte, die im Deutschen Reich nur noch unter dieser Voraussetzung arbeiten dürfen. Diese wenigen der ehemals 8000 jüdischen Ärzte sind in Deutschland geblieben, haben den Repressalien zunächst standgehalten.
Auch der aus Ostpreußen gebürtige Dr. Kurt Hirschfeldt gehört zur Zielgruppe dieser Schikane. Seine Königsberger Praxis hat er aufgeben müssen, 1936 ist der ostpreußische Orthopäde aus dem ermländischen Braunsberg nach Berlin gezogen – wohl in der trügerischen Hoffnung, in der Anonymität der Großstadt sicherer zu sein. In seiner Heimatstadt ist seine Familie alteingesessen, sie hat sich dort kurz nach dem 1812er „Edikt über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden im Preußischen Staat“ angesiedelt, das es ihnen endlich erlaubte, an einem Ort dauerhaft sesshaft zu werden. Der Großteil der Bevölkerung der Kleinstadt ist katholisch, die ehemalige wohlhabende Hansestadt eine „Insel“ im ansonsten evangelischen Ostpreußen. Die jüdischen Ärzte sind ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft.
1853 hat der jüdische Kinderarzt Dr. Jacob Jacobson aufgrund aufopferungsvoller Verdienste während einer schweren Choleraepidemien die Ehrenbürgerwürde der Stadt erhalten. Sein Nachfolger wird Dr. Wilhelm Wiener, dessen Sohn unter dem Künstlernamen Josef Wiener-Braunsberg in den 1920er Jahren in Berlin als Redakteur der Zeitschrift „Ulk. Illustriertes Wochenblatt für Humor und Satire“ Karriere macht. Übernommen hat er den Posten von Kurt Tucholsky.
Kurt Hirschfeldt stammt aus einem Ort, in dem es, trotz aller konfessionellen Widrigkeiten, lange Zeit zu keinen offenen antisemitischen Angriffen kommt. Aber 1938 brennt auch dort die Synagoge und wird dem Erdboden gleichgemacht.
Zu diesem Zeitpunkt lebt Hirschfeldt schon seit zwei Jahren in Berlin. Bis April 1940 hat er Berufsverbot, dann zwingt man ihn zum Dienst als „Judenbehandler“ am Jüdischen Krankenhaus von Berlin. Durch seinen Halbbruder Fritz, den sozialdemokratischen Redakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts der Danziger Volksstimme, ist sein Leben besonders gefährdet. (Fritz war ein Sohn aus der zweiten Ehe des Vaters, des Zahnarztes Julius Hirschfeldt, mit Flora Klein. Julius’ erste Ehefrau Martha gehörte zu der ostpreußischen Familie Laserstein, aus der auch die bekannte Malerin Lotte Laserstein stammte.)
Zusammen mit Erich Brost, dem Herausgeber der Danziger Volksstimme, ist Fritz schon 1933 verhaftet worden. Bemühungen seiner nichtjüdischen Ehefrau, der Schauspielerin Lona Berlow, ihn zu retten, scheitern: Am 8. Mai 1942 stirbt er im Vernichtungslager Kulmhof.
Lonas Schwester, die Sekretärin Edith Berlow, hat sich derweil in Fritz’ Bruder Kurt verliebt, doch eine Heirat ist ihnen durch die berüchtigten Nürnberger Rassengesetze, speziell das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, strikt verboten. Im November 1942 tauchen beide in die Illegalität ab. Die Lage hat sich dramatisch zugespitzt und Kurts Name steht bereits auf der Liste für den nächsten Abtransport in den sicheren Tod. Edith hat sich in der Zwischenzeit der Gruppe „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“ um den Widerstandskämpfer Werner Scharff angeschlossen, den man noch in den letzten Kriegstagen in Oranienburg erschießen wird.
Unter ständiger Lebensgefahr verteilt Edith in Berlin Anti-Kriegs-Flugblätter, in denen offen zum Widerstand aufgerufen wird, bietet zusammen mit Kurt vielen verfolgten Juden Schutz an, und gibt ihnen dadurch Hoffnung auf ein Überleben. Andere Juden, die ebenfalls nicht passiv ausharren wollen, schließen sich der Gruppe um Herbert Baum an, der in einem Ehrengrab der Stadt Berlin auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee ruht. Ebenfalls im Berliner Untergrund lebt die Gruppe „Chug Chaluzi“ (Pionierkreis), deren Mitglieder sich aus der zionistisch geprägten Jugendbewegung rekrutieren und die sich erfolgreich der Deportation haben entziehen können.
Nach dem Krieg arbeitet Kurt bis 1948 als Chefarzt im Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus, dann verlassen Kurt und Edith als Ehepaar Deutschland und wandern nach Amerika aus. Als Kurt 1971 stirbt, kehrt seine Witwe nach West-Berlin zurück. Drei Jahre vor ihrem Tod wird Edith Hirschfeldt-Berlow am 4.Oktober 1992 von Yad Vashem mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
1994 setzte der französische Regisseur Marek Halter den Hirschfeldts und weiteren Menschen, die ihr Leben für andere riskierten, in einem Dokumentarfilm ein visuelles Denkmal. Hoch verdient hat sich das Ehepaar den Titel des Films: „Les Justes“ (Die Gerechten).
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