von Klaus Hammer
Henri Laurens ist unbestritten der bedeutendste französische Bildhauer des 20. Jahrhunderts, zudem der nach Picasso größte kubistische Bildhauer überhaupt, denn er hat den zunächst ausschließlich in der Malerei entwickelten Kubismus in die Plastik überführt. Aber in Deutschland ist er viel zu wenig bekannt, obwohl die großen deutschen Kunstmuseen in Berlin, Bielefeld, Duisburg, Hannover, Hamburg, Kassel, Mannheim, Stuttgart und Wuppertal hervorragende Einzelwerke oder auch ganze Werkgruppen beziehungsweise Sammlungskonvolute des Künstlers besitzen. Aber abgesehen von Ausstellungen in privaten Galerien hat die letzte große Retrospektive 2001 in der Kunsthalle Bielefeld stattgefunden. Es gab seitdem nur eine Doppelausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden, die Skulpturen von Laurens zusammen mit Bildern Fernand Légers zeigte (2012), und eine Kabinettausstellung im Museum Berggruen der Staatlichen Museen zu Berlin, in der Arbeiten von Laurens und Picasso gegenübergestellt wurden (2015).
Nunmehr widmen sich das Gerhard Marcks Haus in Bremen und die Kunsthalle Mannheim vornehmlich dem Spätwerk des französischen Klassikers der Moderne, das mit dem Thema „Wellentöchter“ – Figuren mit fließenden Linien – Anfang der 1930er Jahre einsetzt. Dennoch wird auch das Frühwerk gebührend berücksichtigt, so dass an mehr als 100 Werken – Konstruktionen, Steinskulpturen, Terrakotten, Bronzen und Papiercollagen, Zeichnungen und Gouachen, Druckgrafik und illustrierten Büchern – ein vier Jahrzehnte währendes Schaffen gültig dokumentiert werden kann, von den kubistischen Anfängen bis zu den voluminösen, organischen Formen des Spätwerkes. Man kann sich an heiteren spielerischen Formen erfreuen, steht dann wieder betroffen vor verinnerlichten Formzusammenballungen oder vermag die eigenständige Perfektion und Formenvielfalt der Arbeiten auf Papier zu prüfen und nachzuvollziehen. Übersichtlich und weiträumig weist die Ausstellungsdramaturgie jeder Plastik ihren eigenen Raum zu – entsprechend der Maxime des Künstlers: Plastik bedeutet im wesentlichen Besitzergreifung des Raumes.
Die kubistische Phase ist mit ebenso körper- wie stilllebenhaften Konstruktionen aus farbigem Holz und Metall, die sich aber durch ihre Verhaltenheit, ihre außerordentliche Verfeinerung von den Konstruktionen Picassos unterscheiden, bemalten Steinreliefs und einfarbigen Steinskulpturen, Collagen und Zeichnungen, Aquarellen und Gouachen vertreten. Die kubistischen Sujets wie Gitarre, Absinthglas, Flasche und Obstschale, Zeitung oder Pfeife entbehren jeder Erzählfreude. Holz und Blech werden nicht spielerisch und zufällig, sondern in ein räumliches Spannungsverhältnis gesetzt: geschnitten, schräg ineinandergefügt, als schiefe Ebenen, auf der Spitze balancierende Flächen angeordnet, mit anderen frei fallenden Materialien kontrastiert. Die Vielfalt der Elemente und Materialien wird einzelnen Raumebenen untergeordnet.
Dagegen sind Laurens‘ Frauenköpfe in Terrakotta stereometrische Körper, architektonische Gebilde mit glatten Scheidewänden und harten Winkeln, durch viele Wechselbeziehungen zwischen Innen und Außen, Rechts und Links wie Vorne und Hinten geprägt.
Sein kubistisches Credo hat Laurens 1918 so formuliert: „Ich komponiere und rhythmisiere meine Formen mittels Gleichgewichten und Gegensätzen in bestimmten Richtungen und Dimensionen, um die Darstellung zu verdichten im Blick auf das Eigenleben des Werkes. Mit anderen Worten: erschaffen und nicht die Naturwirklichkeit nachahmen oder interpretieren“.
Niemals hat Laurens die plastische Ordnung brutalisiert, ohne jeden Missbrauch bediente er sich ihrer in suggestionsreichen Formen. In faszinierender Weise ist von Werk zu Werk nachzuvollziehen, wie aus der Geschlossenheit des zunächst fast grafisch geschnittenen Steinreliefs vollplastische Figuren in den Raum hineintreten. Anstelle farbiger Kontraste tritt die Beschränkung auf Steine, Erden und Bronze. Die Reliefs sind zunächst fast grafisch geschnitten, flach wie die Zeichnung, dann gräbt der Künstler die Figur tiefer ein („Stehende“, 1931, Stein), sie tritt aus dem Relief heraus und dabei entstehen zunächst noch wandbezogene, einansichtige Skulpturen bis zu den frei sich entfaltenden Sitzenden und Liegenden („Schwangere“, „Die Woge“, „Zwei Undinen“, alle 1932, Bronze), die dann schon schwellende Formen aufweisen.
Auch in seinen farbig wundervoll abgestimmten Collagen setzt Laurens die geklebten Papiere wie ein Bildhauer ein, indem er auf der Fläche Räumlichkeit anstrebt und zugleich behutsame grafische Ergänzungen mit Kreide vornimmt. Sich überschneidende, scharfkantige Flächen hat er in mehreren Farben gestaltet. Diese Arbeiten zeigen bereits die Heiterkeit seines Wesens an. Trotz schwieriger existentieller Bedingungen – ihm musste schon 1914 ein Bein amputiert werden – ist Laurens der bescheidene, schweigsame, gütige Mensch „mit den Augen eines Gelehrten und den Händen eines Schwerarbeiters“, so sein Galerist Kahnweiler, geblieben.
Dann bilden Rundplastiken aus Stein und Terrakotta in schwellender Körperlichkeit, vertikal wie horizontal gestaffelt, die Dominanten. Sie gliedern den Raum rhythmisch als Lagernde, Kauernde, Kniende, Sich-Bewegende, Erhebende, Streckende, Emporschnellende. Schon ab Mitte der 1920er Jahre hatte sich Laurens vom kubistischen Stil gelöst und schuf organisch-figürliche Plastiken mit deformierten, biomorphen Formen. In den 1930er und 1940er Jahren formte er rhythmisch schwingende Frauenkörper von sprühender Sinnlichkeit zu dynamischen Raumgebilden. Die Ozeaniden, Sirenen und Nereiden, Fabelwesen des Meeres und Göttinnen der antiken Mythologie, umschließen mit ihren Armen wie Schlingpflanzen imaginäre Räume, Bewegung wird Gegenbewegung entgegengesetzt. Diese Werke sind Symbole elementaren Lebens, freie Phantasien, unendliche Verwandlungen der Form. In ihnen fügen sich körperliche Schwere und heitere Gelöstheit glücklich zusammen. Dagegen ist „Der Abschied“ in Bronze und Terrakotta (1941), aus Anlass der Emigration vieler seiner Freunde entstanden, ein ganz verinnerlichtes In-Sich-Zurückziehen der Form. Die Figur verschließt sich in verstummendem Schrei und innerem Schmerz. Die Bronze-Plastik steht auch auf dem Grabmal des Künstlers auf dem Pariser Friedhof Montparnasse.
„Der kleine Morgen“ in Terrakotta und monumental „Der Morgen“ in Bronze (1944) – ein in raumgreifender Gebärde denaturierter Körper von schmerzhafter Betroffenheit.
Alle Gegensätze von Statik und Dynamik, Volumen und Raum sollen im spannungsvollen Gleichgewicht aufgehen. Das Drehen und Schlängelnde der Bewegung, das Ineinander-Verschlungensein kann mitunter bis zu gänzlich unnormalen Verrenkungen führen. Das Instabile in extremer Situation soll sozusagen ein Höchstmaß an Stabilität erzeugen.
Laurens’ Figurationen sind keine Passanten auf der Straße. Gegen das Flüchtige, Temporäre setzen sie etwas Dauerhaftes, Bleibendes, sie ziehen den Betrachter in nachdenkliche Meditation oder beredte Zwiesprache – doch ein Rest an Undeutbarem, Unauflösbarem, Geheimnisvollem bleibt ihnen.
Ein wunderbares Ausstellungserlebnis, das einem Kraft, Zuversicht und Offenheit für das neue Jahr zu geben vermag.
Henri Laurens – Wellentöchter. Gerhard Marcks Haus Bremen, bis 13. Januar 2019; Kunsthalle Mannheim, vom 1. März bis 16. Juni 2019. Katalog (Museumsausgabe) 29,00 Euro.
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