von Edgar Benkwitz
Das alte Jahr endete mit einem Debakel für die in Indien regierende hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) von Premierminister Narendra Modi. Bei Landtagswahlen im Dezember verlor sie gleich drei der von ihr regierten Unionsstaaten. Diese gehörten bisher zu ihren Hochburgen, jetzt entschieden sich die Wähler hier mehrheitlich für den verhassten politischen Gegner, die Kongresspartei.
Große Teile der indischen Öffentlichkeit sind von diesem Meinungsumschwung der Wähler überrascht. Man war es gewohnt, dass die BJP nach ihrem Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen von 2014 auch auf Landesebene von Sieg zu Sieg eilte. Zuletzt regierte sie in 21 von 29 Unionsstaaten. Und nun diese schallende Ohrfeige!
Ist dieses für die politische Landschaft Indiens wichtige Ereignis der Anfang vom Ende für die hindunationalistische Regierung Indiens? Ist es für sie ein böses Omen oder nur ein Denkzettel, der zur rechten Zeit kam? Denn in nur vier Monaten finden die Parlamentswahlen statt, diefünfjährige Regierungszeit Narendra Modis geht dann zu Ende.
Schon werden Rechnungen angestellt, die das jüngste Wahlergebnis auf eine gesamtindische Ebene heben und schlussfolgern, dass die bisherige Regierungspolitik gescheitert sei. Nachdenkliche Stimmen meinen hingegen, dass die Regierungspartei zwar kräftig Federn lassen werde, sie werde aber ihre Arbeit fortführen können. Solche Ansichten sind Ausdruck der Sorge um die Stabilität und die Zukunft des Landes. Denn bei aller Kritik wird anerkannt, dass das große Schwellenland trotz vieler widriger Umstände eine stabile wirtschaftliche Entwicklung aufweist und sich seine internationale Stellung bedeutend gefestigt hat.
Ohne Zweifel ist Indien in den letzten fünf Jahren kräftig gewachsen, doch diese Entwicklung ist ungleichmäßig und von schwerwiegenden sozialen Problemen begleitet. Profitiert hat neben der Oberschicht vor allem die schnell wachsende Mittelschicht. Hingegen hat sich das Los von Hunderten Millionen nicht verbessert. Betroffen sind besonders die kleinen, hoch verschuldeten bäuerlichen Betriebe und die Stammesbevölkerung. Auch deren Los sollte bedeutend verbessert werden, so versprach es die Wahlpropaganda vor fünf Jahren. Narendra Modi hatte vollmundig verkündet, dass sich in seiner Regierungszeit das Einkommen der Bauern verdoppeln werde. Leere Worte, für die er jetzt die Quittung bekam.
Die drei Bundesstaaten Rajasthan, Madhya Pradesh und Chattisgarh – wo gewählt wurde – gehören zu den ärmsten und unterentwickeltsten Indiens. Ihre etwa 180 Millionen Einwohner leben größtenteils auf dem Lande. Kein Wunder, dass sie sich von der bisherigen Politik verraten fühlten und eine Alternative wählten. Die drei Staaten sind Teil des sogenannten Hindi-Gürtels Nordindiens, zu dem auch die in der Ganges-Ebene liegenden großen Staaten Uttar Pradesh und Bihar mit über 300 Millionen Einwohnern gehören. In der BJP geht die Furcht um, dass die Wechselstimmung der Wähler auch auf diese großen unterentwickelten Gebiete übergreift.
Doch noch haben Premierminister Modi und seine Partei etwas Zeit, sich gegen die abzeichnende Entwicklung zu stemmen. Soziale Probleme sind kurzfristig natürlich nicht zu lösen, doch können auf bisher vernachlässigten Gebieten eindeutige Zeichen gesetzt werden. Wird die Politik in Neu Delhi das tun und werden gezielte Maßnahmen bei den Wählern verlorenes Vertrauen zurückholen? Eine schwierige Frage, bei deren Beantwortung der politische Gegner, die Kongresspartei, kräftig mitmischt.
Diese Partei, die nach dem Willen der Hindunationalisten eigentlich von der politischen Landkarte verschwunden sein sollte, ist plötzlich wieder da. Ihre Führung nutzt kräftig die Schwächen der Regierungspartei aus. Der neue Präsident der Partei, Rahul Gandhi, hat Berater um sich geschart, die ihn auf immer neue Attacken gegen das Zugpferd der BJP, Premierminister Narendra Modi, einstellen. Ziel ist, dessen Glaubwürdigkeit und große Popularität zu untergraben. Unverkennbar wird der jetzt 48-jährige Rahul Gandhi mit allen Mitteln zu einem ernst zu nehmenden Kontrahenten von Narendra Modi aufgebaut. Dazu gehört, mittels einer Imagekampagne sein bisheriges Erscheinungsbild als Kosmopolit und Weltenbummler mit wenig Verbindung zum Leben in Indien in das eines devoten, tief in der Tradition verwurzelten Hindu-Gläubigen zu verändern. So besuchte der Nachfahre der atheistischen Nehru-Gandhi-Dynastie auf seinen Wahlkampfreisen täglich mehrere Tempel und ließ sich dort segnen. „Temple hopping“ nennt das spöttisch die indische Presse und erinnert daran, dass Religion im bisherigen Leben eines Rahul Gandhi keine wahrnehmbare Rolle gespielt hat. Bei einem der Besuche hätten die Priester enthüllt – so Rahul Gandhi – dass seine Abstammung, das sogenannte Gotra, bis in die uralten indischen Epen mit ihren Helden- und Göttergestalten reiche. Die Times of India nennt diese Verlautbarung peinlich, denn solch mythisch-religiöse Verbindungen – die in der Tat in der Brahmanenkaste eine Rolle spielen – seien immer eine private Glaubenssache. Diese publik zu machen, solle nur beweisen, dass man ein „echterer Hindu“ als andere sei. Voraussetzung sei auch eine lückenlose männliche Hindu-Ahnenreihe – das träfe hier aber nicht zu, da der Großvater von Rahul (der Gatte Indira Gandhis) ein Andersgläubiger, nämlich Parse, war.
„Wird solch ein Hokuspokus jetzt die Politik der Kongresspartei bestimmen?“ fragt ironisch-besorgt die Times of India. Doch wie das Wahlergebnis in den drei Unionsstaaten zeigt, hilft auch Scharlatanerie bei der Sicherung von Wählerstimmen. Hier gehören über 90 Prozent der Bevölkerung der Hindu-Religion an, die Alphabetisierungsrate liegt mit knapp über 60 Prozent beträchtlich unter dem gesamtindischen Durchschnitt.
Punkten konnte Rahul Gandhi auch auf einem anderen Gebiet. Er forderte, sofort alle Schulden der bäuerlichen Betriebe zu streichen. Der Beifall der Bauern war ihm sicher, zumal in den von seiner Partei gewonnenen drei Staaten diese Forderung sofort umgesetzt wurde. Doch namhafte Ökonomen warnen vor einer solchen Maßnahme. Abgesehen von einer enormen Belastung der Staatsfinanzen – man spricht von bis zu zwei Prozent des Bruttosozialprodukts – würden nur die reichen Bauern und die Geldwucherer profitieren. Vorrang müssten gezielte Maßnahmen zur Erhöhung der bäuerlichen Einnahmen haben, wie es im Süden Indiens bereits erfolgreich praktiziert wird.
Die Elite des Landes ist in ihrer Meinung zur gegenwärtigen Führung der Kongresspartei gespalten. Man wünscht sich zwar wieder eine starke politische Opposition, findet aber an deren gegenwärtigen Profillosigkeit sowie dem Hereinziehen des Hinduismus in die Parteipolitik wenig Gefallen. Auch an die bisherige Laufbahn des Parteipräsidenten wird erinnert, der als Dynast in die Parteiämter gehoben wurde, zur Übernahme von Ministerämtern nie bereit war und als Parlamentarier vor allem durch Abwesenheit glänzte. Der bisher regierende Narendra Modi kommt so trotz aller Kritik wieder stärker ins Gespräch. Seine Tatkraft, Disziplin und seine Volkstümlichkeit finden Anerkennung, angekreidet wird ihm allerdings sein wiederholtes Schweigen bei schlimmen hinduchauvinistischen Gewalttaten.
Im Moment wagt kein ernst zu nehmender politischer Kommentator, Prognosen für die nächste Zeit zu stellen. Fest steht nur, dass die organisatorisch und kadermäßig gut aufgestellte hindunationalistische Bewegung alle Register ziehen wird, um an der Macht zu bleiben. Möglicherweise müssen Koalitionspartner helfen, um die man sich gegenwärtig bemüht. Auf der anderen Seite warten die Kongresspartei und starke Regionalparteien auf ihre Chance, die Modi-Regierung abzuwählen. Das wäre aber nur durch ein Bündnis aller Oppositionskräfte möglich, das Wahlabsprachen und Sitzverteilung beinhaltet. Für Indien ein kompliziertes Vorhaben, denn noch bestimmen divergierende Interessen die politische Szene. In jedem Fall scheint Indien einer instabileren Entwicklung entgegen zu gehen.
Schlagwörter: Armut, Edgar Benkwitz, Hindunationalismus, Indien, Narendra Modi, Rahul Gandhi