21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Säkulare Stagnation – nur ein Gespenst?

von Ulrich Busch

Überraschend kam sie nicht, die Eilmeldung des Statistischen Bundesamtes, wonach das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr deutlich geringer ausfallen werde als bisher angenommen: Über den Sommer hat sich die gesamtwirtschaftliche Leistung etwas verringert, so dass das Bruttoinlandsprodukt leicht geschrumpft ist. Um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal, das ist nicht viel, aber immerhin. Die Projektion für das Jahr 2018 musste daraufhin nach unten korrigiert werden. Unklar ist jedoch, ob der langandauernde Aufschwung damit nun an sein Ende gekommen ist oder ob es sich hierbei lediglich um eine Wachstumsdelle handelt, hervorgerufen durch temporäre Sondereffekte.
Die meisten Experten sind optimistisch und gehen von einer Fortsetzung der Konjunktur in unvermindertem Tempo aus. Es ist aber auch gut möglich, dass es anders kommt. Schließlich dauert ein konjunktureller Aufschwung nicht ewig, sondern wird irgendwann abgelöst durch einen Abschwung, eine Rezession oder eine Stagnation. Zudem weist der langfristige Trend seit Jahrzehnten auf ein geringer werdendes Wirtschaftswachstum hin. Wachstumskritiker nehmen diese Entwicklung zum Anlass, jegliches Wachstum, Wirtschaftswachstum überhaupt, infrage zu stellen. Überall und für immer.
Es ist hier die Rede von absoluten Grenzen des Wachstums, von der Notwendigkeit eines Wachstumsverzichts, von einer Postwachstumsökonomie und dergleichen mehr. In diesem Zusammenhang taucht auch immer wieder der Begriff „säkulare Stagnation“ auf.
Anfangs bezeichnete dieser Terminus eine Bedrohung der Menschheit, eine Gefahr für Prosperität und Wohlstand; heute steht er eher für eine Hoffnung, die Folgen des ungebremsten Wirtschaftswachstums für die natürliche Umwelt zu begrenzen und so den Klimawandel, die Klimakatastrophe, aufhalten zu können. Aber beide Sichtweisen sind problematisch, da sie auf unzutreffenden Voraussetzungen beruhen.
So unterstellt die traditionelle und bis heute verbreitete Sicht der ökonomischen Wirkung des Wachstums eine direkte positive Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Volkswohlstand, während die negativen Folgen als „externe Effekte“ ausgeblendet werden. Diese Ansicht aber entspricht nicht den Gegebenheiten und ist daher zurückzuweisen.
Die Kritik ist jedoch mitunter nicht weniger unbefriedigend, da sie mit einem mechanistischen und nicht ökonomischen Wachstumsbegriff operiert und folglich im Wachstumsverzicht, in der Stagnation, die Lösung aller Probleme sieht. Tatsächlich aber bildet kein Wachstum nicht die Alternative zu ungebremstem Wachstum. Und ebenso wenig ist eine „säkulare Stagnation“ erstrebenswert für eine dynamische Gesellschaft mit wachsendem Wohlstand.
Die anzustrebende Lösung muss anders aussehen: Nicht Nullwachstum ist das Ziel, sondern wirtschaftliche Entwicklung, wovon Wirtschaftswachstum eine Komponente bildet. Zudem muss das Wachstum ressourcensparend, effizient, nachhaltig, ökologisch und reproduktiv, also im Rahmen volkswirtschaftlicher Kreisläufe, erfolgen. Gelingt dies, so bedarf es keiner „säkularen Stagnation“, um dem ökologischen Kollaps zu entgehen.
Dem Stagnationsgedanken lässt sich theoretisch und politisch aber noch einiges mehr abgewinnen. So behandelt beispielsweise der österreichische Ökonom Heinz D. Kurz in seinem neuesten Buch die wirtschaftliche Stagnation als „Ausdruck des strukturellen Wandels der Gesellschaft und ihres erzielten ‚Reifegrads‘ oder ‚Alters‘“ sowie als „Vorboten revolutionärer Umwälzungen und eines danach erfolgenden Neubeginns“.
Schließt man sich dieser Lesart an, so rückt der Begriff der „säkularen Stagnation“ in die Nähe des heute allgegenwärtigen Transformationsbegriffs: Die aktuelle Transformationstheorie deutet die sich seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts vollziehenden Wandlungsprozesse in Wirtschaft, Gesellschaft, Zeitgeist, Kultur und so weiter als den Beginn einer „Großen Transformation“ – weg von der kapitalistischen und hin zu einer postkapitalistischen Ordnung.
Interessanterweise stimmt die hier ins Auge gefasste zeitliche Dimension mit dem Phänomen der „säkularen Stagnation“ überein: Seit den 1970er Jahren finden wir sinkende Wachstumsraten und vermehrte Hinweise auf eine allgemeine Tendenz zur Stagnation. Zumindest in den entwickelten Volkswirtschaften der Welt. Die bloße Deskription dieses Prozesses und seine Darstellung anhand ökonomischer Daten genügt aber nicht. Für eine ernsthafte wissenschaftliche Argumentation bedarf es zudem einer theoretischen Begründung dafür und einer Fassung des Phänomens als Vorbedingung oder Begleiterscheinung der Transformation. Diese fehlt bisher und wird auch nicht so leicht zu erbringen sein, denn die ökonomischen Theorien basieren fast durchweg auf Wachstumsmodellen.
Es ist nun das Verdienst von Heinz D. Kurz, in umfangreichen Untersuchungen wenigstens einige der theoretischen Ansätze daraufhin analysiert zu haben, was sie in Bezug auf die hier behandelte Fragestellung zu leisten vermögen. Im Zentrum seiner Analyse stehen die klassischen Theorien von Adam Smith, David Ricardo, Thomas R. Malthus, John Stuart Mill und Karl Marx. Ferner die marginalistischen Auffassungen von William Stanley Jevons, Léon Walras und William Baumol sowie die Theorien von John M. Keynes, Michal Kalecki, Josef Steindl, Joseph A. Schumpeter und Thomas Piketty.
All diese Theorien enthalten Aussagen zur „säkularen Stagnation“. Der Schluss des Autors ist jedoch bemerkenswert: Sowohl klassische Ökonomen als auch Keynesianer erklären die Stagnationstendenzen in der Wirtschaft endogen, also aus der Funktionslogik der Ökonomie, was sie als unvermeidlich erscheinen lässt. Demgegenüber behandeln neoklassische Denker sie als exogen, als von außen vorgegeben und mithin vermeidbar. Erstere Theoretiker unterstellen damit in ihrem Ansatz eine allmähliche Selbsttransformation von Wirtschaft und Gesellschaft im Zuge ihrer Entwicklung, während letztere die tendenzielle Stagnation als ein Resultat der Verringerung der Produktionsfaktoren und ihrer Wirksamkeit begreifen.
Es ist folglich in erster Linie eine Frage des theoretischen Standpunktes und der Interpretation der empirischen Daten, ob „säkulare Stagnation“ stattfindet oder nicht und ob diese begrüßt wird oder abgelehnt. Vielleicht gibt es diese in der Realität aber auch gar nicht, und ist sie nur ein theoretisches Konstrukt der Ökonomen, ein manchen Angst machendes, anderen durchaus willkommenes „Gespenst“.

Heinz D. Kurz: Das Gespenst säkularer Stagnation. Ein theoriegeschichtlicher Rückblick, Metropolis-Verlag, Marburg 2018, 117 Seiten, 16,80 Euro.