21. Jahrgang | Nummer 26 | 17. Dezember 2018

Müssen Naturgesetze „schön“ sein?

von Dieter B. Herrmann

Autoritäten haben es per Definition an sich, kraft Ihres hohen Ansehens auch meinungsbildend zu wirken. Oft hören wir über die Inhaber hoher politischer Ämter, sie hätten zu wenig (oder gar kein) Charisma und seien schon aus diesem Grunde weniger geeignet, Denkprägungen zu bewirken. Da geht es doch in den Naturwissenschaften glücklicherweise ganz anders zu – denkt man. Hier zählen nur wirklich erbrachte Leistungen und strenge Beweise – denkt man. Doch nehmen sie nur ein Buch über moderne Naturwissenschaft in die Hand und sie werden finden, dass es von Zitaten aus der Feder von einstigen und jetzigen Berühmtheiten nur so wimmelt. Was wollen uns die Autoren mit diesen vielen Zitaten sagen? Meistens, dass sie dieselbe Meinung vertreten und diese von Autoritäten wie Galilei, Einstein oder Hawking – also meist bedeutendere Persönlichkeiten als sie selbst – durchaus geteilt werden. Wenn Einstein das sagt (Autorität!), dann muss es doch wohl stimmen. Doch wie kamen die großen Leistungen von Galilei, Einstein oder Hawking zustande? Indem sie auf Autoritäten pfiffen und statt stattdessen dem Motto folgten „Ehrfurcht macht blind“. Jeder große Durchbruch in den Naturwissenschaften kam gegen etablierte Meinungen zustande.
Eine Grundidee, die sich seit der Antike von einer Autorität auf die andere fortgepflanzt hat, besteht in der Überzeugung, dass die Natur harmonisch aufgebaut sei. Der Harmoniegedanke stammt dabei aus einem Bereich, in dem er bis heute den meisten vertraut ist: aus der musikalischen Harmonie. Pythagoras – so jedenfalls die Überlieferung – soll nämlich festgestellt haben, dass den Tönen, die zusammen einen Wohlklang ergeben, ganzzahlige Verhältnisse der Saitenlängen auf dem Monochord entsprechen. Eine solche „harmonische Ordnung“ vermutete man nun auch im gesamten Aufbau des Kosmos. Schon der Begriff „Kosmos“ (= Schmuck und Ordnung) deutet darauf hin, mehr aber noch der Terminus „Sphärenmusik“. Wie eine schwingende Saite sollten auch die sich bewegenden Wandelsterne (Planeten) insgesamt einen kosmischen Wohlklang erzeugen. Nur, dass man diese Töne nicht hören konnte (mit Ausnahme von Pythagoras, wie die Fama berichtet).
Das gesamte geozentrische antike Weltsystem ist ganz bewusst auf diesem Harmoniedenken aufgebaut. Ptolemaios, der Urheber des Meisterwerks „Almagest“, sprach von der „Gleichförmigkeit, strengen Ordnung, Ebenmässigkeit und Einfalt“, die man an den himmlischen göttlichen Wesen erschauen könne. Er war übrigens zugleich auch Urheber der wohl besten antiken Musiktheorie, in der er ebenfalls die Verhältniszahlen der Töne mit jenen der Bewegungen der Himmelskörper verglich.
Das Paradebeispiel für den Leitgedanken der Harmonie in der Forschung ist der Renaissance-Gelehrte Johannes Kepler. Er war von Beginn an von der Idee beseelt, den harmonischen „göttlichen Schöpfungsplan“ zu entschlüsseln. Dass es gerade sechs Planeten gibt (Uranus und Neptun waren noch unentdeckt) und fünf regelmäßige sogenannte Platonische Körper – da musste aus seiner Sicht ein Zusammenhang bestehen. Und scheinbar fand er ihn auch: Schreibt man der Fläche der Saturn-Sphäre einen Sechsflächner (Würfel) ein, so ergibt sich aus dessen eingeschriebener Kugel gerade die Jupiter-Sphäre. Wird der Jupiter-Sphäre ein Vierflächner (Tetraeder) eingeschrieben, so bildet dessen eingeschriebene Kugel gerade die Sphäre des Mars und so weiter. Die zahlenmäßige Übereinstimmung war zwar nicht perfekt, aber doch zufriedenstellend. Erst mit der Entdeckung von Uranus (1781) und Neptun (1846) zeigte sich dann, dass Keplers Vision ein „Luftschloss“ war, denn mehr als fünf regelmäßige Körper gibt es nicht. Trotzdem ist ganz klar: Kepler hat – geführt von diesem Leitgedanken (auch der musikalischen Harmonie) – seine berühmten Gesetze der Planetenbewegung entdeckt.
Als im 18 und 19. Jahrhundert die Symmetrien der Kristalle und vieler organischer Strukturen entdeckt wurden, gab es neuen Zulauf für die Harmonie- und Symmetrieanhänger unter den Naturwissenschaftlern. Zu den anschaulichen Symmetrien, die jeder auf Anhieb als schön empfindet, gesellten sich bald viel abstraktere, die in der mathematischen Gruppentheorie beschrieben werden. Drehen wir ein gleichseitiges Dreieck um 0, 120 oder 240 Grad, so bleibt es unverändert. In „Fachchinesisch“: Es gibt drei Symmetrietransformationen, die eine Gruppe bilden. Der mathematische Gruppenbegriff ist aber noch deutlich abstrakter. Es zeigte sich jedoch bald, dass es sich um alles andere als rein mathematische Denkspiele handelte. Vielmehr fand man Zusammenhänge zwischen mathematischen Symmetrien und physikalischen Größen der realen Welt wie Energieerhaltungssatz oder Drehimpulserhaltungssatz. Die Physiker waren überzeugt, dass man damit einen Weg gefunden hatte, nach neuen Naturerkenntnissen zu forschen. Die Natur ist ihrer Ansicht nach symmetrisch, „schön“ und elegant. Zitate lassen wir hier weg, von wegen Meinungsdiktatur der „Autoritäten“. Doch hat sich dieser Leitgedanke auch bewährt? In etlichen Fällen mehr als überzeugend: Die Quarks als Bausteine der Protonen und Neutronen wurden auf diese Weise entdeckt und auch Einsteins Relativitätstheorien. Kein Wunder, dass die großen Physiker der jüngeren Zeit dem Symmetrieglauben weitgehend verfallen sind. Doch soll man ihnen folgen? Hatten wir nicht festgestellt „Ehrfurcht macht blind“?
Seit rund zwei Jahrzehnten sucht man am Europäischen Kernforschungszentrum CERN nach ominösen Teilchen einer angenommenen Supersymmetrie, eine konsequente Anwendung des Symmetriedenkens. Unter diesen Teilchen vermutet man auch Kandidaten für die „Dunkle Materie“, die sich seit rund 80 Jahren unserer Erklärung entzieht, falls es sie denn überhaupt gibt. Sterne bewegen sich in Galaxien anders, als sie es nach der klassischen Physik tun sollten, Galaxien in den Galaxienhaufen ebenfalls. Erklären können sich das die meisten Wissenschaftler nur durch die Annahme einer unsichtbaren „Dunklen Materie“, die zwar über Anziehungskraft verfügt, aber ansonsten keine Wechselwirkungen mit der gewöhnlichen Materie eingeht. Da sich nun aber von den supersymmetrischen Teilchen bislang noch keine Spur gezeigt hat, ist der Physikerin Sabine Hossenfelder vom Frankfurt Advanced Studies Institute der Kragen geplatzt. Sie erregt jetzt mit ihrem Buch „Das hässliche Universum“ die Gemüter. Ihr Hauptvorwurf: Die Physiker benutzten Kriterien für ihre Suche, die in der exakten Wissenschaft nichts verloren hätten. Schönheit, Eleganz und Symmetrie: Das seien ästhetische Maßstäbe und das Universum müsse nicht schön, sondern könne im Gegenteil auch durchaus hässlich sein. Die Physik habe sich in eine Sackgasse manövriert, aus der sie nur herausfinden würde, wenn sie diese „ästhetischen Kriterien“ fallenließe. Doch ebenso wie die Überzeugung führender Physiker von einem symmetrischen Bauplan der Natur ist auch Hossenfelders Gegenentwurf nur eine These.
Ob sie recht hat wird sich allerdings erst in der Zukunft zeigen. In der VR China bereitet man gerade den Bau eines neuen Teilchenbeschleunigers vor, bei dem die Partikel mit der fünffachen Energie aufeinanderprallen sollen, die jetzt beim CERN erreicht wird. Als Forschungsziel wird die Aufklärung der Natur der „Dunklen Materie“ genannt. Ohne Leitprinzipien, auch wenn es für diese keine rationale Begründung gibt, geht es offenbar auch in der exakten Naturwissenschaft nicht. Man nennt das wohl Heuristik.

Sabine Hossenfelder: Das hässliche Universum. Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt, S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, 368 Seiten, 22,00 Euro.
Dieter B. Herrmann: Die Harmonie des Universums.
Von der rätselhaften Schönheit der Naturgesetze, KOSMOS Verlag, Stuttgart 2017, 256 Seiten, 19,99 Euro.