21. Jahrgang | Nummer 23 | 5. November 2018

Realsatirikerin als Türsteher

Lebenskunst bedeutet, Problemen nicht auszuweichen, sondern daran zu wachsen.
Anaximandros lt. Distel beim Abfassen einer Merkel-Biografie

von F.-B. Habel

Speziell nach der Teilung Berlins wurde im Westen gern der Schlager „Es gibt nur ein Berlin“ gespielt, den Willi Kollo 1932 für Claire Waldoff geschrieben hatte. Dass Berlins Einheit beschworen wurde, hörte der Osten weniger gern. Seit 1948 entwickelte sich Berlin immer mehr zu zwei Städten mit zwei Zoologischen Gärten, zwei internationalen Flughäfen und auch zwei Hauptstadtkabaretts in bis heute bestehenden zwei Citys in Berlin. Die Stachelschweine im Westen waren zuerst da und bereiten sich schon aufs 70. Jubiläum im kommenden Jahr vor – die Distel ist seit nunmehr 65 Jahren standorttreu am Bahnhof Friedrichstraße und nennt sich selbstbewusst „DAS Kabarett im Regierungsviertel“. Folgerichtig bewacht Angela Merkel, gern liebevoll „Mutti“ genannt, lebensgroß die Eingangstür. Als die Kanzlerin nebenan im Admiralspalast zu tun hatte, suchten übereifrige Beamte übrigens die Direktion zu bewegen, das Konterfei zu verhängen, stießen damit aber auf Granit. Und warum auch! Als Realsatirikerin ist sie doch irgendwie Kollegin …
Im Frühjahrsprogramm „Zirkus Angela – Schicksalsjahre einer Kanzlerin“, das weiterhin im Spielplan steht, dürfen die Kollegen die Mutti auf die Schippe nehmen, und darüber hinaus brilliert Dagmar Jaeger als Sandmännchen. Sie ist mit der Distel gleichaltrig und will sich – zum Bedauern des Publikums – jetzt langsam zurückziehen. Zuvor steht sie aber – gemeinsam mit Michael Nitzel – im Mittelpunkt der Distel-Jubiläumsproduktion „2018 – Odyssee im Hohlraum“. Während sich Nummernprogramme wie das sehr pointenreiche „Zirkus Angela“ an einem roten Faden entlanghangeln, hat die Leitung sich entschlossen, zum Jubiläum ein Kabarettdrama aufzuführen. Ein Drama ist es allerdings nicht geworden – weder in dem einen noch in anderem Sinne. Man begegnet Sahra Wagenknecht als Mitarbeiterin eines stinknormalen Call-Centers, weil sie durch die Anrufer den Kontakt mit den geknechteten Massen halten kann. Das ist ein ausgedehntes Vorspiel für die eigentliche Handlung, in der bei einem Wanddurchbruch ein betagtes, aber noch munteres Ehepaar zum Vorschein kommt, das sich kurz vor der Distel-Gründung in einer Katakombe vor den Russen (Stichwort 17. Juni) versteckte. Nun entdeckt es das durchglobalisierte neue Deutschland, wird gebührend bestaunt und von Talk zu Talk herumgereicht. Thomas Lienenlüke hat das skurrile Stück geschrieben und der künstlerische Leiter Dominik Paetzholdt (seit 2015) hat es mit Tempo inszeniert, und die musikalische Begleitung ist ein Bonbon für sich.

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Einen neuen künstlerischen Leiter haben seit einigen Monaten die Stachelschweine, nachdem der Posten lange unbesetzt war. Mit Michael Frowin (tv-bekannt aus „Kanzleramt Pforte D“ und der SWR-„Spätschicht“), der unter anderem für die Herkuleskeule, die academixer und natürlich für die Distel arbeitete, hat man ein Schwergewicht gewinnen können. Durchbrüche gibt es wie in der Friedrichstraße auch im Europacenter in „Menschen. Ämter. Katastrophen“, für das Frowin als Autor und Regisseur geradesteht. In einem Ostberliner Arbeitsamt wird Asbest gefunden, was die Arbeit einschränkt, und eine Fliegerbombe ist auch noch da. Es entspinnt sich ein intelligent-unterhaltsamer Reigen um Stasi und GEMA, Asylanträge und Aktenvernichtung. Frowin schaffte es mit neuen Darstellern (die muntere Kölnerin Jenny Bins, bewährt schon im Prime Time Theater, ragt hervor) ein temporeiches Programm, das durch eine gute Choreographie (Gerhard Winterle) besticht. In dem neuen Programm „Keine Künstler! Keine Haustiere!“ (Premiere nach Redaktionsschluss) steht Tausendsassa und Publikumsmagnet Michael Frowin auch selbst bei den Stachelschweinen auf der Bühne.

Nächste Vorstellungen:
Distel: Zirkus Angela, 12.–17.11., Odyssee im Hohlraum, 3.–15.12.;
Stachelschweine: Keine Künstler! Keine Haustiere!, 6.–8.11., Menschen, Ämter, Katastrophen: 9.–11. und 13.–18.11.