21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Inselfahrt

von Renate Hoffmann

Geständnis: Ich wusste nur, dass sie im Süden liegen. Irgendwo. Die Äolischen (Liparischen) Inseln. Vulkanischen Ursprungs. Die Neugier rührt sich. Sie weist nach Siziliens Norden. Zum Tyrrhenischen Meer. Von Milazzo aufs Schiff, und den sieben größeren und einigen kleineren Eilanden entgegen. Während der Überfahrt stürmt es und Starkregen peitscht. Es muss wohl doch Aiolos’ (römisch: Aeolus) Reich sein, dem Gott der Winde, den die Griechen hier ansiedelten und ihm ein Heiligtum errichteten.
Jede der sieben Inseln verspricht Besonderheiten. Seien es die außergewöhnliche Vegetation und die wilde Struktur der vulkanisch geprägten Landschaft. Oder die aktive Erde, deren innere Gewalt nur scheinbar gebändigt ist, und die losbrechen kann, wenn sie es will. Vom Gran Cratere der Insel Vulcano steigen schwefelige, übelriechende Dämpfe auf, und der Stromboli auf der gleichnamigen Insel wirft Feuersäulen in den Himmel.
Natur und tätige Vulkane, archäologische Funde von tiefschürfender Aussage, mythologischer Abglanz der Götterwelt und Homers Helden. All dies im Zusammenklang bewog die UNESCO im Jahr 2000 dem Äolischen Archipel das Prädikat „Weltnaturerbe“ zu verleihen.
Das Schiff, gebeutelt von äolischen Winden, steuert Lipari an, die größte der Inseln. Ein Schritt ans Ufer, und man steht in der tropfnassen Finsternis der Stadt. Regenschauer verbergen ihr Gesicht. Die Straßenbeleuchtung blakt. Blitz und Donner und das Rauschen des Meeres. Das Angelesene über Lipari verschwindet wie hinter einem Vorhang.
Am nächsten Morgen öffnet er sich. Himmelblau. Nichts, außer wenigen Pfützen erinnert an das gestrige Unwetter. Betriebsame Straßen und Gassen, Rufe vom Hafen, Mauern hinter vielfarbigen Bougainvilleen versteckt. Feuchtwarmer Wind. Äolus ruht vom Toben aus.
Lipari – das Inselland, von Vulkanausbrüchen, Piraterie und Eroberungszügen gepeinigt; Griechen, Römern, Spaniern und anderen Mächten untertan. Lipari – das wirtschaftliche Schieflagen durchlebte und Höhenflüge nutzte.
Über die Berge ans Meer. Die Berge sind gewaltige, herrische, abweisende und doch lockende Felsen, die, von üppigem Grün überzogen, ihre vergangenen übermächtigen Kräfte verraten. Oder sind sie noch nicht vergangen? Der grauschwarze, glasartige Obsidian und der weiße Bimsstein, Hinterlassenschaften gewesener Vulkantätigkeit, zeigen sich in Aufbrüchen und ehemaligen Abbauflächen, drohend und gespenstisch.
In der Nähe der Landzunge von Perciato ragen zwei wuchtige Blöcke aus dem Meer: „ Pietra Lunga“ und „Pietra Menalda“. Es sollen die Felsen sein, von denen Homer im zwölften Gesang der Odyssee berichtet. Odysseus und seine Gefährten blieben auf ihrer Rückfahrt nach Ithaka ein Jahr bei Circe, der Göttin „mit den schönen Flechten“. Sie entließ die Männer mit dem Hinweis auf eine mögliche Gefahr: „Hier sind überhängende Felsen, und gegen sie brandet / Groß die Woge der dunkeläugigen Amphitrite ; / Plankten (Planktai Petrai – d.A.) sind sie genannt […] Noch kein Schiff der Männer entrann da […] Sondern die Wogen der See und Stürme vernichtenden Feuers / Tragen zugleich Schiffsplanken herum und Leichen von Männern. […] Nur ein einziges Schiff fuhr heil auf dem Meere vorüber / Argo, die allbekannte …“
Wir fahren ungehindert an den „Plankten“ vorbei, erreichen die Stadt und ich erhole mich von den Schiffbrüchen und Männerleichen in der lebhaften, schmalen, leicht abwärts führenden „Via Garibaldi“, die an der Piazza di Marina Corti endet. Wer sah je solch ein Gewimmel entspannten Volkes gemächlich durch den sonnigen Nachmittag schlendern, dabei Blicke nach rechts und links in die Läden und Lädchen mit Allerwelts-Krimskrams werfend? Kleine Bars, Cafés und Restaurants. Es wird gelacht, in verschiedenen Sprachen diskutiert, geküsst, welches in dem Getriebe beschwerlich ist. Gerüche schwaden, gemischt aus Kaffeeduft, Früchten und Gewürzen. Muscheln, kunstvoll geformt und als Andenken von Lipari mitzubringen. Schwingende Hüte, schöne Kleider, Tücher und Taschen. Signora Maria sitzt vor ihrem Haus. Die Freunde grüßen sie: „Buona sera, Maria!“ Sie nickt und singt leise. Unmerklich senkt sich Dämmerung über die „Garibaldi“. Straßenlaternen leuchten auf und Lichter hinter den Fenstern.
Zur Grünsten der Grünen. Nach Salina, der „Garteninsel“. Von der Anlegestelle mitten hinein in den Garten Eden. Obstplantagen und große Weinanbauflächen. Rosen und immergrüne Magnolien mit den eleganten, cremeweißen Blüten und dem Vanilleduft. Purpurwinden, die blauviolette Schleier über Busch und Baum ziehen und der Kapernstrauch. – Wein der Rebsorte „Malvasia delle Lipari“ und Kapern. Hochgeschätzte und einträgliche Genussmittel der Insel.
Leni – Ort auf der Hochebene zwischen den beiden untätigen Vulkanen. Es ist zwölf Uhr Mittag. Von der Kirche San Gaetano ertönt nicht Glockengeläut, sondern über Lautsprecher Schuberts „Ave Maria“. Der Weg hinunter zum Strand von Rinella wird zum botanischen Spaziergang. Fenchel und Wermut. Myrte und Rosmarin, Mandelbaum und Kapernsträucher; wildwachsend, doch auch angebaut. Die Kaper ist die Knospe der Pflanze. Entfaltet sie ihre zierliche Blüte, dann ist es zu spät für die Ernte. Die Früchte, die keine sind, werden gewalkt, in Salzlake gebracht – fertig ist der Geschmacksverfeinerer. Die Gemeinde Pollara, an der Nordküste gelegen, gibt jährlich der Kaper im Juni ein Fest.
Pollara und die Schönheit seiner Landschaft wurden zum Drehort des Films „Il Postino“ (Der Postmann), einer poetischen Geschichte zwischen dem Briefträger Mario Ruoppolo und dem Dichter Pablo Neruda. Angelegt nach einem Roman von Antonio Skàrmeta. Am Hafen von Santa Marina Salina gehe ich vorbei an Marios Original-Film-Fahrrad, auf dem er täglich die Post zu Pablo brachte. Man hat es mit Beton umgeben und zur Skulptur werden lassen. In Erinnerung an den Schauspieler Massimo Troisi, der kurz nach den Dreharbeiten verstarb.
Wucht und Zartheit der Inseln und die Magie ihres Ursprungs scheinen die Filmleute besonders anzuregen. So entstanden auf Stromboli und Vulcano im Jahr 1949, fast zu gleicher Zeit, die gleichnamigen Filme. Einerseits mit Anna Magnani, andererseits mit Ingrid Bergman. Eine Art temperamentvollen Konkurrenzunternehmens.
Zum feuerspeienden Stromboli! Vorbei an Panarea, der kleinsten Insel unter den Sieben. Umfahren von gewaltigen Felsstürzen, über einen unterirdischen Krater hinweg, dem Mächtigen mit der Gipfelwolke näher und näher. Ein unterbrochenes fernes Rauschen, das nicht dem des Meeres gleicht. Der Vulkan atmet. Unser kleines Schiff fährt in den Abend hinein, um dem großen Unberechenbaren Reverenz zu erweisen. Das Rauschen wird deutlicher. Dann aber folgt ein grandioses Schauspiel. Gebildet aus den Silhouetten der übrigen Inseln vor einem Himmel in Aquarellfarben, dem wiederkehrenden dumpfen Geräusch und kurzen Feuerstößen. Die würdige Abschiedsvorstellung der Äolischen Inseln.