21. Jahrgang | Nummer 23 | 5. November 2018

Herbstgruß

von Renate Hoffmann

Der Mai – zärtlich umschwärmter Monat. Und der Oktober? Dionysischer Geselle, Übermütiger, heftigen Gemüts, Verschwender, von Lebensgier zu wildem Taumel wechselnd. Maßloser, der um sich wirft mit seinen Gaben. – Der zaubernd seinen Thyrsos schwingt und Wein und Frucht in Fülle bringt. Der Apfel steht hier vorne an, weil man ihn gut erlangen kann. Am Marktstand und am Wegerand, ganz leicht zu pflücken mit der Hand. – Oder ihn auf alten noch vorhandenen Streuobstwiesen aufsammeln, hinein beißen, und den vorzüglichen Geschmack vergessener Apfelsorten und deren verklungene Namen lustvoll genießen.
Ähnliche Neigung zum Apfelverzehr scheint auch der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein (1751–1829), der „Goethe-Tischbein“, verspürt zu haben. Man wählte diese Bezeichnung für ihn, um ihn von den übrigen Künstlern der weitverzweigten Malerfamilie unterscheiden zu können. Mit Goethe befreundet, malte er in Italien den Dichter in klassischer Pose: „Goethe in der Campagna“.
Ein intimes Gemälde von Tischbein, nur den Äpfeln gewidmet, ausschließlich ihnen. Ohne die Beigaben, die ein traditionelles Stillleben ausmachen, ist es doch ein solches. Ich erlaube mir, es als eine Huldigung an die dritte Jahreszeit zu betrachten. Und als Eingeständnis des Künstlers, die köstlichen, schmackhaften Eigenschaften dieser Früchte besonders zu schätzen. Wie sonst hätte er als Motiv einen Berg aus Äpfeln gestalten sollen? Gewiss gibt es auch andere Deutungen zum „Apfel-Pseudostillleben.“ Dennoch möchte ich das Bild als den Herbstgruß des Johann Heinrich Wilhelm Tischbein verstehen.
Liebevoll und verlockend sind die Früchte aufgetürmt; gelbe neben rotbäckigen, rotgesprenkelte neben roten, rauschalige neben glänzenden, kleine neben großen, runde neben länglichen, die man volkstümlich „Hasenköpfe“ nennt. Tischbeins Sortiment könnte vielleicht enthalten: Die Ananasrenette, den Roten Bellefleur und die Wintergoldparmäne, Kaiser Alexander und den Edelborsdorfer. Auch den Paradiesapfel (zweite Reihe, Dritter von rechts). Diese lokale Einordnung dürfte nicht zutreffen, denn die Verführungsfrucht im Garten Eden war allenfalls eine Feige. Somit wäre denn der wohlschmeckende Apfel entschuldet.
Gelobt in hohen Tönen indessen wird der Virginische Rosenapfel (untere Reihe, Fünfter von links): „kugelfömig, zum Teil über der Wölbung sanfte Erhabenheiten, Schale glatt, fein beduftet, beim Reiben gewürzhaft riechend, Fleisch von feinem, gewürzartigem oder rosenähnlichem Geschmack.“
Meister Tischbein vergaß auch nicht, an die Vergänglichkeit alles Irdischen zu erinnern. Aus der lustigen Apfelpyramide rollt ein Faulender heraus …

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: „Äpfel“, Öl auf Holz, 33,1 x 43,7 cm, undatiert, Hamburger Kunsthalle.