von Edgar Benkwitz
Steht man auf dem Alexanderplatz, geht der Blick unwillkürlich zum Fernsehturm. Das höchste Bauwerk Deutschlands vermittelt immer wieder einen imposanten Eindruck. Die Kugel mit dem Restaurant befindet sich immerhin in 213 Meter Höhe. Nun stelle man sich daneben ein Denkmal vor, 186 Meter hoch. Das würde fast bis an die Kugel reichen, diese sogar mit seinem Sockel von 54 Metern beträchtlich übertreffen.
Dieser Vergleich zeigt die Ausmaße der gigantischen „Statue der Einheit“, des mit Abstand höchsten Denkmals der Welt, das am 31. Oktober in Indien eingeweiht wurde. Es befindet sich im Bundesstaat Gujarat, im Westen des Landes, auf einer Insel des Flusses Narmada. Dargestellt ist Vallabhbai Sardar Patel (1875–1950), Kampfgefährte von Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru. Als Innenminister schuf er 1947/48 die staatliche Einheit Indiens, indem er durch Verhandlungen, Druck und militärische Aktionen mehr als 550 Fürstentümer in den neuen Staat integrierte. Das brachte ihm die Beinamen „der Eiserne“ und „Bismarck Indiens“ ein.
Am 31. Oktober 2013, dem Geburtstag Patels, legte der damalige Ministerpräsident von Gujarat, Narendra Modi, den Grundstein für die riesige Statue. Sein Heimatstaat war zu dieser Zeit der einzige Unionsstaat Indiens, der hindunationalistisch regiert wurde. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit war ihm gewiss, zumal gleichzeitig Hindu-Aktivisten landesweit 20 Millionen Unterschriften und Spenden für den Bau sammelten. Bei Baubeginn war Narendra Modi bereits Premierminister Indiens und weihte in dieser Funktion vier Jahre später das Monument ein.
Doch im Vergleich zu 2013 ist heute die mobilisierende Stimmung weitgehend verflogen und hat einem eher gedämpften Herangehen Platz gemacht. Modi selbst – vor der Statue stehend nicht größer als ein Zeh derselben – schien von der schieren Größe der Persönlichkeit aus der Vergangenheit erdrückt zu werden. Das nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn: Sardar Patel ist mit seinen Verdiensten für das moderne Indien in dessen Geschichtsbücher eingegangen; Narendra Modi möchte einmal das gleiche erreichen, doch dem steht viel entgegen – vor allem polarisiert seine Politik, sie eint nicht, wie die seines Vorbildes.
Das Denkmal selbst ist dafür die beste Illustration. Es wird mit „gemischten Gefühlen“ – wie die Times of India – schreibt aufgenommen. Das ist noch geschmeichelt, denn eine echte Bewunderung will sich nicht einstellen. Neben dem unverständlichen Gigantismus und der hohen Kosten von über 400 Millionen US-Dollar wird auch die Notwendigkeit des Bauwerkes angezweifelt. Wäre das Geld nicht viel besser bei dringend notwendigen sozialen oder infrastrukturellen Projekten aufgehoben, wird immer wieder gefragt. Doch hier geht es um eine eindeutige politische Botschaft: so wie Sardar Patel das Land einte und stärkte, so arbeitet jetzt die hindunationalistische Regierung daran, Indien zu entwickeln und zu stärken. Das sollen täglich bis zu 15.000 Touristen – so ist es geplant – an diesem Ort der Erinnerung, der ein Museum und ein Forschungszentrum einschließt, erfahren.
Diese Geschichte hat jedoch einen Haken, auf den Kommentare in den großen Tageszeitungen hinweisen. Sardar Patel hatte mit der hindunationalistischen Bewegung und Ideologie nichts zu tun. Er gehörte der säkular ausgerichteten Kongresspartei an und sprach als deren Innenminister nach dem Mord an Mahatma Gandhi, der von einem Hindufanatiker begangen wurde, das Verbot einer ihrer Organisationen aus. Die jetzige Regierungspartei BJP ignoriert weitgehend diese Tatsachen und hakt sich bei der vielschichtigen Persönlichkeit Patels an anderer Stelle ein.
Er gehöre zu den „vergessenen Führern“ Indiens, so Narendra Modi in seiner Rede bei der Einweihung. Er spielt damit auf herausragende Persönlichkeiten der Vergangenheit an, deren Beitrag für das neue Indien bewusst geschmälert wurde. Eine idealisierte, oft kritiklose Geschichtsschreibung rückte hingegen Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru in den Mittelpunkt, negierte Meinungsunterschiede oder gar gegensätzliche Ansichten zwischen den Führern der Kongresspartei. Der juristisch versierte Dr. Ambedkar, der „Vater der indischen Verfassung“, verließ deshalb als Kastenloser die Kongresspartei, wandte sich sogar vom Hinduismus ab und gründete eine neobuddhistische Bewegung. Subhas Chandra Bose, einst Präsident der Partei, war mit der Politik des gewaltlosen Widerstandes nicht einverstanden und suchte für die Befreiung seines Landes die Zusammenarbeit mit den faschistischen Mächten. Auch Sardar Patel hatte bedeutende Differenzen mit Nehru und Gandhi, die bis zu Rücktrittsdrohungen reichten. So wollte er, dass bei der Teilung Britisch-Indiens das muslimische Kaschmir an Pakistan geht.
Ein Paradebeispiel, wie die hindunationalistische Bewegung die „vergessenen Führer“ für sich vereinnahmt, ist auch der bereits erwähnte Subhas Chandra Bose, der, von der Kongresspartei in der Vergangenheit verfemt, kürzlich eine nicht gekannte offizielle Würdigung erfuhr. Am 21.Oktober jährte sich zum fünfundsiebzigsten Mal der Jahrestag der Bildung der Exilregierung „Azad Hind“(Freies Indien), die 1943 durch Bose in Singapur verkündet wurde. Premierminister Modi, mit einem schwarzen Militärkäppi bekleidet, wie es Bose trug, hisste zu Ehren dieses Tages auf dem historischen Roten Fort in Delhi die indische Flagge. Diese Zeremonie überraschte dann doch viele, denn Bose handelte mit Unterstützung des faschistischen Japans gegen die Anti-Hitler-Koalition, der auch Britisch-Indien angehörte. Aber für viele Inder ist er bis heute der eigentliche Nationalheld, da er den bewaffneten Kampf gegen die britische Herrschaft führte.
Die hindunationalistische Regierung sprach mit dieser Aktion die Gefühle vieler an, die in dieser schwierigen Frage – Patriot oder Verräter? – für eine gerechte und ausgewogene Beurteilung Boses plädieren. Doch wie auch immer, wie Sardar Patel gehört auch Subhas Chandra Bose nicht ins Pantheon der Hindunationalisten. Er vertrat einen Nationalismus, der säkular ausgerichtet war, und in dem alle Religionen und Ethnien gleichberechtigt vertreten sind, was sich beispielsweise bei der Zusammensetzung seiner militärischen Einheiten zeigte.
Der Inbesitznahme ihrer ehemaligen Parteigrößen schaut die Kongresspartei mehr oder weniger tatenlos zu. Sie wird von einer idealisierten Geschichtsschreibung eingeholt, deren Bewältigung sie ratlos gegenübersteht. So kann man auch die Reaktion Rahul Gandhis, des jetzigen Präsidenten der Partei, auf das Denkmal am ehesten mit der Fabel vom Fuchs und den zu hoch hängenden Trauben vergleichen.
Die Regierungspartei BJP möchte durch solche Aktionen ihren landesweiten Einfluss ausbauen. Ein breit aufgestellter Nationalismus soll möglichst viele Bevölkerungsschichten erreichen. Doch wird er wohl kaum den vorhandenen und tief verwurzelten engen Hindunationalismus verdrängen können. Und während in Gujarat die ersten Touristen zur noch höchsten Statue der Welt pilgern, ist vor der Küste Mumbais ein noch höheres Denkmal im Bau. Als Reiterstandbild soll es 210 Meter hoch werden und den Hindu-Anführer des 17. Jahrhunderts Chatrapathi Shivaji Maharaj zeigen, der gegen den muslimischen Moghul-Kaiser Aurangzeb kämpfte. Dieser Tage wurde bekannt, dass auch in der nordindischen Stadt Ayodhya, wiederholt Schauplatz hinduchauvinistischer Exzesse gegen Muslime, eine gigantische Statue des Hindugottes Ram mit einer Höhe von 151 Metern (plus 51 Meter Sockel) gebaut werden soll. Es ist wohl keine Überraschung, dass die Standorte dieser neuen Super-Denkmäler sich in Unionsstaaten befinden, die von der hindunationalistischen Partei regiert werden.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Hindunationalismus, Indien, Narendra Modi, Sardar Patel, Subhas Chandra Bose