von Joachim Lange
Die euro-scene gehört seit 1991 zum festen Kulturkalender in Leipzig. Das durch die Stadt und mehrere Stiftungen und Kulturinstitutionen finanzierte Festival hat sich trotz aktueller Mittelkürzungen um 30.000 Euro (durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen) behauptet und bei seinem Publikum etabliert.
Unter dem Motto „Bühnen–Klang–Welten“ gab es in diesem Jahr 11 Gastspiele in 20 Vorstellungen an acht Spielstätten. Darunter immerhin fünf Deutschlandpremieren. Bei allen Produktionen, die sich mehr oder weniger direkt um zeitgenössische europäische Musik, Theater oder Tanz drehten, sorgten 5.200 Zuschauer für eine Auslastung von 94,6 Prozent.
Der belgische Regisseur und Choreograph Alain Platel ist schon zum zehnten Mal dabei und hat jetzt das Festival mit seinem schon seit Januar tourenden „Requiem pour L.“ eröffnet. Es sind pausenlose knappe zwei Stunden, in denen dem Publikum buchstäblich die Luft wegbleibt. Auf einem Feld von zehn mal fünf Grabplatten, die an das Berliner Holocaust-Mahnmal erinnern, bewegen sich Sänger, Tänzer und Instrumentalisten zur Musik von Platels Landsmann Fabricio Cassol. Der zitiert in seiner Komposition immer wieder Mozarts „Requiem“, greift es auf, überschreibt es und löst sich auch mal völlig davon, um unmittelbar der Bewegungslust der Tänzer zu folgen.
Auf einer Leinwand im Hintergrund werden die Akteure und Zuschauer mit der Großeinstellung einer im Sterben liegenden Frau konfrontiert. Auf sie bezieht sich das L im Titel des Abends. Das bedient einerseits einen gewissen Voyeurismus, wird aber andererseits auch zu einem Blick in den Spiegel des eigenen Lebens und dessen unausweichlicher Endlichkeit. Als Kunst wird das Ganze zum Ereignis vor allem deshalb, weil die Afrikaner im Ensemble bei ihrem Umgang mit dem Tod gleichsam mit der Stimme und mit ihrem Körper „sprechen“. Was sie freilich (laut Programm in Lingala, Suaheli, Tshiluba) singen, ist nur intuitiv zu erfassen. Die Truppe liefert die Trauer zu einem Tod, der sich im Laufe der Zeit ganz real anschleicht und die Frau auf der Leinwand mit offenem Mund zur Seite kippen lässt. Nicht erst da gehen sie allesamt wild entschlossen gegen den Tod an. Feiern mit ihrer Art zu trauern eher das zu Ende gehende Leben, als dass sie den nahenden Tod beklagen.
Man muss nicht mal besonders austrophil sein, um dem Charme und dem professionellen Charisma von Nikolaus Habjan zu erliegen. Der 31-jährige Österreicher gehört zu den Gästen der euro-scene, mit denen Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff den Balanceakt spielend meistert, zu unterhalten und zum Nachdenken anzustiften. Zumindest im Falle „Böhm“. Mit diesem Soloabend mit Puppen ist Karl Böhm (1894–1981) gemeint. Der Dirigent, der von 1943–45 und von 1954–56 auch Wiener Staatsoperndirektor war. Was einiges über Österreichs Umgang mit sich und seiner Vergangenheit sagt. In Dresden hatte Böhm 1933 den gerade vertriebenen Fritz Busch ersetzt. Dem war konsequenter Anstand das Wichtigste. Für Böhm war es die Musik. Auf der Bühne sagt er Sätze wie: „Der Musik muss das Politische egal sein. Und wenn sich die Politik für die Musik interessiert, dann kann man nichts machen.“ Die Nazis haben sich bekanntlich dafür interessiert. Sogar eine sogenannte „Gottbegnadetenliste“ geführt.
Habjan – in der Rolle des genialen Puppenspielers – ist im Stück zu Gast beim alten, ewig grantelnden Böhm, den er selbst als Klappmaulpuppe gebaut hat, führt und sogar als Puppenspieler (oder Pfleger) mit dem alten Mann im Rollstuhl redet. Den nimmt man von seinem ersten Seufzer an für voll. Wenn er Schubert dirigiert. Wenn er sich immer etwas rechtfertigend erinnert. Und besonders, wenn er voll von seiner eigenen Genialität überzeugt, einzelne Musiker bei der Orchesterprobe zusammenfaltet. Etwas gütiger spricht er mit dem jungen Mädchen, das sich als Schwester des Puppenspielers zu erkennen gibt. Wenn sie über ihren Ehrgeiz, beim Marathon mitzulaufen reden, dann ist es nicht weit zum Mitläufertum bei den Nazis … Es gibt viele Musikhäppchen, der Zuschauersaal von Semper- und Wiener Staatsoper werden projiziert und nicht nur Fritz Busch, auch Elisabeth Schwarzkopf und Christa Ludwig treten (als kleine Ganzkörperpuppen) auf.
Der alte Herr gibt in dem Text von Paulus Hochgatterer unabsichtlich viel preis über Zeitläufte, die Rückgrat verlangen. Alles ohne didaktischen Holzhammer, aber mit Nachwirkung. Bei Habjan stößt er am Ende die eigene Skulptur vom Sockel. Man folgt diesem Besuch bei Karl Böhm atemlos und mit Vergnügen.
Habjans zweiter Auftritt in der Alten Handelsbörse ist pures Vergnügen. Er heisst „Ich pfeife auf die Oper“ – und müsste „Ich pfeife! Auf die Oper!!“ heißen. Begleitet von seinem Pianisten Daniel Nguyen entpuppt sich Habjan (was hier heißt: mal ganz ohne eine seiner Puppen) als ein Kunstpfeifer, der mit einem gepfiffenen Parforceritt durch die Welt der Oper begeistert. Mit Tenor- und Koloratur-Arien imaginiert er Rossinis und Mozarts Figaro, wechselt von der Rache-Arie der Königin der Nacht zum Freischütz Max oder zur Unschuld vom Lande, namens Adele, aus der Fledermaus. Das ist hinreißend und seine fast zwanzig Best-of-Nummern sind eine pure Liebeserklärung an Oper und Operette, denen er obendrein witzige Kurzeinführungen in den Kontext der Arien hinzufügt. Er wechselt von einem Hit zum anderen. Die Begeisterung der Zuschauer steigt noch einmal, als die Festivaldirektorin verrät, dass sie Nikolaus Habjan für 2020 wieder eingeladen hat.
Ansonsten bewegt sich das Spektrum der aktuellen euro-scene von sinnlich packenden Tanzstücken bis zur bedeutungsschwangeren Performance.
In der Spielstätte des Schauspielhauses mit dem Namen Discothek ist die euro-scene ganz und gar bei sich. Und bei dem, was man vor ihr erwartet. Wenn Juliette Comant und der auch choreographierende Nono Battesti gemeinsam mit Sängerin Dyna B. und Musiker Quentin Halloy mit Gitarre, Loop oder Drum Machine loslegen. Was unter dem Titel „Double“ zu einer eingängigen Musikmelange aus mulitkulturellem Pop und Jazz handwerklich perfekt zelebriert wird, ist atmosphärisch und assoziativ fürs Zwischenmenschliche zuständig. Schmiegt sich an wie die Bewegungen der Tänzer an die Musik. Das eine wird so professionell wie das andere präsentiert, bietet allerdings auch kaum Angriffsfläche für allzu große Herausforderungen oder gar Verstörung.
Im Theater der Jungen Generation markiert die Performance der slowenischen Gruppe Via Neativa, das andere Ende der Programmskala. Zur Neunten Sinfonie von Beethoven tragen sie im wahrsten Sinne ihre nackte Haut zu Markte. Zwei Frauen und drei Männer treiben, tragen, werfen sich durch Kapitel wie Ethos, Logos und Pathos, der Musik Beethovens, die von einer Karajan Aufnahme eingespielt wird. Sie kommen in Zivil, ziehen sich einer nach dem anderen aus und schwere Schuhen an. Am Ende steht Equus (lateinisch für Pferd) oben drüber, die Performer verteilen Pferdemasken über die Spielfläche und ziehen sich wieder an. Wenn sie sich dazwischen gegenseitig nach vorn tragen und abwerfen, dabei einen Begriff herausbrüllen werden sie mit unzähligen projizierten Ismen überflutet. Das abendländische Denken auf Schlagworte gebracht. Zweimal werden diese Exerzitien durch ohrenbetäubende Pistolensalven unterbrochen.
„Deveta“ bezieht sich im Programm auf „Das Offene. Der Mensch und das Tier“ von dem bei Dramaturgen allemal hoch im Kurs stehenden Philosophen Giorgio Agamben. Das Leipziger euro-scene Publikum akzeptiert solche Herausforderungen, bei der Inhalt und Kunst (weniger Inhalt mehr Kunst, möchte man das Wort von Hamlets Mutter adaptieren) beide zugunsten einer Assoziationsbehauptung zurück treten, bei der offene Fragen die Antwort sind.
Im Rundfunkinterview zum Abschluss der diesjährigen euro-scene blieb die Festspielchefin optimistisch. Auch was eine Rücknahme der Mittelkürzungen anbetrifft.
Schlagwörter: Alain Platel, euro-scene, Joachim Lange, Leipzig, Nikolaus Habjan, Via Neativa