von Joachim Lange
Fünf Monate war das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg geschlossen. Diesmal war kein außer Kontrolle geratener Eiserner Vorhang, wie beim Amtsantritt von Karin Beier, die Ursache, sondern eine geplante und vorsorgliche Sanierung der Ränge des prunkvollen Hauses. Die neue Saison startete jetzt – sozusagen standesgemäß – mit einem Großformat als Regiechefsache: Die Intendantin inszeniert selbst William Shakespeares „König Lear“. Also eins der Endzeit- und Auflösungsstücke, die sich im Laufe der Jahrhunderte partout nicht abnutzen, sondern denen die Wirklichkeit dicht auf den Fersen bleibt und immer wieder anbiedert. Auch heute ist das so. Das Reizvolle für Regisseure ist, dass das nicht vordergründig geschieht, sondern nur mit charismatischen Darstellern und einer Idee überzeugend funktioniert. Im Mittelpunkt mit einem Herrscher, der müde ist zu regieren, aber die Macht eigentlich behalten will. Vor allem aber hat er das Gefühl dafür verloren, wie seine nächste Umgebung über ihn denkt. Er vertraut nur sich und nicht den Institutionen. Erst im Wahnsinn findet er Klarheit und im Narren den Menschen.
Edgar Selge ist Karin Beiers Lear. Der 70jährige ist eine TV-Prominenz (vor allem dank seines einarmigen Polizeiruf-Kommissars Tauber), aber auch ein Publikumsliebling unter anderem der Hamburger Theaterfreunde. Er war hier schon 2002 der Menschenfeind und dann 2004 der Faust jeweils in der Inszenierung von Jan Bosse. Zur Hochform mit landesweiter Leuchtkraft lief er in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ auf. Für dieses grandiose Solo wurde er 2016 beim Ranking der Zeitschrift Theater heute zum „Schauspieler des Jahres 2016“ gekürt und obendrein auch noch mit dem Theaterpreis „Der Faust“ dekoriert. Diese als Großmonolog adaptierte Romanversion ist ein gefeierter Theaterwurf. (Der im Dezember übrigens an der Berliner Volksbühne als Gastspiel zu sehen sein wird.) Diese Inszenierung ist obendrein ein geglücktes Beispiel dafür, wie man daraus einen Film machen kann, der das Theaterereignis zugleich vermittelt und erweitert.
So lag es in Hamburg auf der Hand, dass Selge jetzt den Lear spielt. Und er zieht dafür natürlich alle Register. Lässt den Herrscher in der Garderobe und fängt gleich als Aussteiger an. Er schlendert scheinbar versonnen an der Wand entlang und über die Bühne. „Zum Grabe hin“ verkündet er bei seiner formellen Abdankung zugunsten seiner Töchter. Was er freilich nicht so wörtlich meint wie er es sagt. Denn er hat seine eigenen Vorstellungen vom fröhlichen Seniorenleben im Kreise seiner hundert Ritter und als abwechselnder Premium-Gast im Hause seiner Töchter. Die nähren seine Illusion bei der Verteilung des Reiches auch noch, wenn sie ihre abgeforderten Liebesbekundungen für den Vater hier in einen kleinen Gesangswettbewerb eskalieren lassen, und weder vor „Over The Rainbow“ noch vor Händels „Ombra mai fu“ zurückzuschrecken. Zumindest was Goneril und Regan betrifft und besonderen Show-Witz hat, weil Carlo Ljubek und Samuel Weiss diese beiden unter ihren Perücken, auf hohen Hacken und im Glitzerfummel spielen. Ohne von ihren Männern gestört zu werden, denn die sind bei Karin Beier gestrichen.
Man glaubt Selge das Resignieren und Verzweifeln an diesem Abend oft. Denn er spielt sich die Seele aus dem Leib. Bis hin zur Selbstbefreiung im Wahnsinn. Davor entblößt er sich. Auch im wahrsten Sinne des Wortes. So wie Edgar als Tom auf der Heide. Aber auch nackte Tatsachen können zu fake news werden. Selge gibt zwar mit Inbrunst, hängenden Schultern und zu Berge stehenden Haaren den großen Scheiternden, den existenziell Enttäuschten. Doch er führt genau das auch mit Inbrunst vor. Und zwar so, dass man merkt, wie hier ein allgemein hoch geschätzter Mime eine Rolle nach seinen Maßen baut. Und wie eine Regisseurin bewährte Theatermittel vorführt. Das reicht vom gelegentlichen aus der Rolle treten und das Publikum anspielen bis zum Einsatz der Musik, die Jörg Gollasch für Yuko Suzuki am Klavier, das hinten in der linken Ecke des Bühnenkastens postiert ist, arrangiert hat. Wer so immer wieder demonstrativ über das gesprochene Wort hinaus geht, misstraut am Ende auch dem Text. Ein wenig jedenfalls.
Johannes Schütz hat die Bühne mit einem hellgrauen, zur Rampe hin angekippten Kasten gefüllt, den man nur von vorn betreten oder verlassen kann. Für das Reich, das Lear verteilt, wird dort ein Teppich ausgebreitet. Unter den sich so manches kehren lässt und mit dem – zusammengeknüllt – der arme Tom auch das Meeresrauschen für seinen geblendeten Vater, den alten Gloucester imitiert. Die Wände sind Projektionsflächen, wenn auch mal nicht für Videos, so doch für die Schatten, die Annette ter Meulen allemal effektvoll mit dem Licht projiziert.
Das auf sechs Männer und drei Frauen reduzierte Personal betritt die Bühne von der ersten Parkettreihe aus und verlässt sie auch wieder dorthin. Oder die Akteure bleiben am Rand sitzen, wenn sie gerade nicht dran sind. So als wäre man in eine Inszenierung von Jürgen Gosch geraten. Bei Karin Beier wird dieser abstrakte Innen-/Außenraum das Basislager für die imaginierte Wanderung durch Seelenlandschaften. Inklusive aller Unwetter und Katastrophen, die sich ereignen.
Er wird aber auch zur Falle. Und zwar immer dann, wenn sich das exzessive Leidenspathos als solches vorführt, im Überdruck der Mimenvirtuosität verselbständigt und damit selbst relativiert. Bei Selge passiert das oft, verhindert anfangs Empathie mit seinem Lear und lässt auch am Ende Mitgefühl nicht mehr wirklich wachsen. „Mehr Inhalt, weniger Kunst!“ würde Hamlets Mutter vielleicht dazu sagen.
Anders bei Lina Beckmann. Ihr gelingt die geradeaus fühlende, gute und zum vordergründigen Einschmeicheln auf Kommando unfähige Tochter Cordelia genauso überzeugend wir ihr Narr. Ihre Spezialität eines mit Menschlichkeit versetzten Irrsinns macht sie auch hier zu einem Bühnenereignis, dem man sich nicht entziehen kann. Weil es von Innen kommt und nicht kokett serviert wird.
Dass Carlo Ljubek und Samuel Weiss im Glitzerfummel und lasziv die beiden bösen Töchter Goneril und Regan, andererseits Sandra Gerling mit bubenhaftem Aufsteigerehrgeiz den fiesen Gloucester-Bastard Edmund spielen, und damit bewusst die Geschlechtergrenzen verwischen, hat schon rein handwerklich durchaus seinen Reiz. Es bleibt aber als ein Ansatz, der vermutlich ins Allgemeingültige vordringen und Geschlechterzuschreibungen erweitern soll, eher eine Behauptung. Und wenn Graf Kent (Matti Krause) als Statthalter von Moral und Loyalität in schlimmen Zeiten seinem gerechten Zorn über die beiden Thronerbinnen in einer Kanonade freien Lauf lässt, in der es von Vokabeln wie „pervers“, „degeneriert“ und „entartet“ nur so wimmelt, während die beiden Männer als Regan und Goneril aufgeputzt wie Dragqueens beim Karneval in Rio in der Bühnenlandschaft stehen, dann fragt man sich, ob das assoziative Risiko, das die Regisseurin damit eingeht, Sinn macht. Und wenn ja welchen. (Nicht nur böse, sondern auch noch falsch gepolt, – das kanns ja wohl nicht sein?). Auch die zitierte „konservative Revolution“ oder Anspielungen auf die neurechte Rhetorik gehen hier unter. Was auch an der Übersetzung von Rainer Iwersen liegen mag, die oft bewusst Poesie gegen Zeitgeist tauscht und den dann vor sich her trägt.
Der Bühnenkasten beschneidet aber nicht nur manchem Gedanken die Flügel, er verschluckt leider auch manches Wort. Und das, obwohl Mikroports im Spiel sind. Wie bei Ernst Stötzners würdigem Grafen von Gloucester. Auch er, wie sein ganzer Clan, in kurzen Hosen. Am besten kommt damit noch sein Bastard Edmund klar, dessen pure Bosheit Sandra Gerling oft wie ein Conférencier pointiert über die Rampe feuert.
Am Ende hat der tanzende und kreischende Edgar das letzte Wort. „Ich, der Geflüchtete, der Vertriebene, erkenne mich selbst als Vorposten der Freiheit!“ sagt er unter anderem als eine Art Epilog auf der Heide. Das Publikum applaudiert den Mimen mit mehr Anteilnahme als der Regie. Für die gibt es auch ein paar Buhs.
Nächste Vorstellungen am 10., 11. und 21. November 2018.
Schlagwörter: "König Lear", Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Edgar Selge, Joachim Lange, Karin Beier