von Klaus Hammer
In den End-1950er Jahren begann Karl-Heinz Adler mit collagierten Schichtungen nach dem seriellen Prinzip: Strukturen von sich wiederholenden, einfachen, geometrischen Formen – Quadrate, Dreiecke, Viertel- oder Halbkreise, später auch Dreiecke und Rechtecke – wurden aus Papier ausgeschnitten, abwechselnd in zwei Farben übereinander geschichtet und fächerartig auf der Fläche ausgebreitet. Die Schichtungen ergaben eine überzeugende Ordnung und Harmonie, zudem wurde eine Illusion der Räumlichkeit erzeugt, eine ihr innewohnende Bewegung.
Der gebürtige Vogtländer Karl-Heinz Adler (Jahrgang 1927), der mehr als sechs Jahrzehnte in Dresden lebte, einer der führenden konstruktiv-konkreten Künstler der zweiten Generation, hatte universelle Probleme (Werden und Zerfall, Raum und Unendlichkeit, Um- und Verwandlung, Harmonie und Polarität, Prozess und System, Licht und Farbe) im Auge, die keine Entsprechungen in der Welt der Gegenstände haben, somit nur in einer abstrakten Sprache ausgedrückt werden können. Allein das Wesentliche, Beständige, Unabänderliche wollte er den von ihm beobachteten Prozessen und Erscheinungen abgewinnen. Er suchte in der Kunst nach einer universalen Sprache des Visuellen, in der das Prinzip der immanenten, im Verborgenen über die Natur und das Weltall waltenden Ordnung ausgedrückt werden könnte.
Seine Schichtungen wurden immer perfekter, er nutzte das Prinzip der Spiegelung, immer öfter auch das der Inversion und rhythmischen Verschiebung um einen Symmetriepunkt oder eine Symmetrieachse. Mittels der Aquarelltechnik und durch die Verwendung von Glas und anderen Materialien gelangen ihm Schichtungen von besonderer Leichtigkeit und Transparenz. Sie scheinen im Bildraum zu schweben und wieder zu entschwinden. Indem er durchsichtiges grünes Glas aufschichtete, Blätter von transparenter Farbfolie übereinander legte oder Schichten von Aquarellfarbe auftrug, erhielten Intensität und Gegenläufigkeit der Farbe, das Pulsieren des Lichtes, aber auch die Dichte der Finsternis eine besondere Funktion in seinem Werk.
Wie bei den Impressionisten pulsiert und vibriert die Bildoberfläche vom Leuchten, das aus dem Innern des Bildes heraufzukommen scheint. In relativer Abgeschlossenheit – denn als „abstrakter“ Künstler war er der DDR-Kulturpolitik suspekt –, ohne zu wissen, was auf dem Gebiet der geometrischen, der konzeptuellen Kunst im Westen vor sich ging, war Adler auf seine eigene Erfindungsgabe angewiesen. Auch der Grafiker und Bildhauer Thomas Lenk hatte keine Kenntnis von Adler, als er sieben Jahre später in Stuttgart für sich das Prinzip der Schichtungen entdeckte.
In den End-1960er Jahren entstanden dann auf Zeichenkartonblättern „Serielle Lineaturen“, um die diagonale Symmetrieachse gedreht. Solange die Linien den Rand der Komposition nicht erreichten, sozusagen auf dem halben Wege stehen blieben, war das Bild für Adler ein Objekt. Sobald die Linien bis an den Rand des Bildes geführt wurden, war das Bild zum Ausschnitt aus dem Unendlichen geworden. Denn die Linien schienen über ihre Grenzen hinaus in den unendlichen Raum zu streben. Indem Adler die Fluchtpunkte von Linien auf der Mittelachse des Quadrats hin und her schob, konnte er die Entstehung immer neuer Räume beobachten. So entstanden ganze Serien von Verwandlungen, von Sequenzabläufen. Die Linienströme fliegen aneinander vorbei, sie verdichten sich und verschmelzen miteinander, sie scheinen in die Tiefe des Bildes einzudringen, sie vernetzen sich.
Später wurde Adler durch die Vorstellung des Erdballs, des sphärischen Raumes angeregt, in den seriellen Lineaturen gekrümmte Linien anzuwenden. Er schnitt entlang der gekrümmten Linien das Quadrat der Komposition imaginär entzwei und setzte die abgetrennten Teile an die vom imaginären Schnitt unberührten Ränder so an, dass die Linien aufeinander trafen und somit wechselseitig zu ihrer natürlichen Verlängerung wurden. Neben offenen Kompositionen entstanden geschlossene „Serielle Lineaturen“ auf Hartfaser- und Spanplatten, die trotz des schweren und klobigen Materials Assoziationen mit in der Luft schwebenden Tüchern erwecken.
Wie die Aquarell- und Glasschichtungen üben auch die „Seriellen Lineaturen“ mit ihrer Schönheit und Magie, mit ihrem Geheimnisvollen und Unaussprechlichen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Betrachter aus. Der Raum ist nicht der aus der realen Erfahrung vertraute Raum, sondern ein magischer, metaphysischer Raum, der zugleich beunruhigt und verunsichert. So ist auch die Linie nicht nur ein gezeichnetes Kompositionselement. „Die Linie – ohne Anfang und Ende –, so formulierte es der Künstler, „ein Begriff für Endlosigkeit, aus dem Nichts kommend, in das Nichts gehend. Vom Punkt zur Linie, von der Linie zum Punkt. Die Line – abstrakt und konkret, rational und irrational zugleich.“
Adlers innovatorische Arbeiten – und hier müsste auch das gemeinsam mit Friedrich Kracht entwickelte variable Formsystem genannt werden, mit dem beide die Monotonie der DDR-Plattenbauten zu bekämpfen suchten –sprechen ebenso die Emotion wie den Intellekt an. Sie gründen sich auf intellektuell aufgebaute, rigorose Systeme, sie regen zum Nachdenken an, geben die Fragen, die den Künstler bewegen, an den Betrachter weiter – nach der Ordnung der Naturgesetze, nach der Rolle des Zufalls in der Erdgeschichte und Geschichte des Alls, nach den in der Mathematik gründenden Regeln und deren Beziehung zum flüchtigen Zauber der Farben, nach der Arithmetik von intellektuellen Konstruktionen und der Unermessbarkeit menschlicher Vorstellungskraft.
Am 4. November ist Karl-Heinz Adler im Alter von 91 Jahren in Dresden verstorben.
Schlagwörter: Karl-Heinz Adler, Klaus Hammer, konstruktiv-konkrete Kunst, Lineaturen, Schichtungen