von Nicholas Ganz
Am 27. August veröffentlichte eine Kommission der Vereinten Nationen einen Bericht, in dem sie der Regierungsarmee Burmas und einigen ihrer ranghohen Generäle Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen Völkermord an den Rohingya nachwies. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag will sich des Falles annehmen, obwohl Burma (auch Myanmar oder Birma) das Gericht nicht anerkennt. Andere ethnische Volksgruppen erhoben in der Vergangenheit immer wieder ähnliche Vorwürfe.
Einer der ersten Schüsse fiel 1949, als das Volk der Karen beschloss, in den Untergrund zu gehen, gegen die Zentralregierung mit Waffengewalt für seine Selbstbestimmung zu kämpfen und seine Bevölkerung vor den Angriffen der Regierungsarmee (Tatmadaw) zu beschützen. Ihr Kampf dauert bis zum heutigen Tage an und ist damit der am längsten andauernde Bürgerkrieg der Welt. Erst im März dieses Jahres fielen im Gebiet der Karen im südöstlichen Zipfel des Landes wieder Schüsse, als die Regierungsarmee Tatmadaw den 2015 geschlossenen Friedensvertrag brach und mit Truppen im Karen-Staat einmarschierte. Die Armee beschlagnahmte Ländereien und vertrieb Dorfbewohner, um eine Straße zu einem ihrer Militärlager zu bauen.
Welche Gründe haben diese Übergriffe auf die ethnische Zivilbevölkerung? Burma ist ein Vielvölkerstaat mit geschätzten 135 ethnischen Gruppen, die eigene Kulturen und Sprachen haben. Die größte Volksgruppe sind die Bamar, in ihrer Sprache auch Myanmar (oder Myamma, Myanma) genannt, die knapp 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Sie besetzen die ranghohen Militärposten und stellten die höchsten Befehlshaber der Diktatur.
Der Shan-Historiker Dr. Jearng Sarng, der lange Jahre über sein Volk der Shan geforscht hat, erläuterte dem Autor: „Während des Militärtrainings der burmesischen Armee wird den Soldaten eingebläut: Die Shan sind ein Volk von Schweinen. Vergesst das niemals! Seid vorsichtig! Eines Tages werden sie euch etwas antun!“
In Burmas Geschichte sind Unterdrückung und Vernichtung der Kultur anderer Volksgruppen durch die vorherrschenden Bamar ein häufig auftauchendes Phänomen. Als die Bamar im 7. Jahrhundert in das Irrawaddy-Delta immigrierten, attackierten und plünderten sie die Stadtstaaten der Pyu, der ersten Siedler des Landes. Roland Watson von Dictatorwatch sieht daher den Rassismus und Nationalismus der Bamar als historisch begründet. Die Teile-und-Herrsche-Politik der britischen Kolonialmacht, die das Land zwischen den Bamar und anderen Volksgruppen aufteilte und gesondert regierte, tat ihr Übriges. Der als xenophob geltende langjährige Diktator Ne Win (1911-2002) führte den Kampf gegen die ethnischen Minderheiten fort, seit 1978 ging er massiv gegen die Rohingya vor und sorgte dafür, dass ihnen 1982 die Staatszugehörigkeit aberkannt wurde.
Mit der Umbenennung des Landes 1989 von Burma in Myanmar wollte die Regierung zum einen die koloniale Vergangenheit abstreifen, denn der Name Burma stammte noch von den Briten. Zum anderen war dies Ausdruck der sogenannten Burmanisierung: auch Städtebezeichnungen aus der Kolonialzeit und aus den Sprachen der ethnischen Minderheiten wurden umgewandelt – nicht immer zur Freude der Bevölkerung. Der Name der Stadt Lashio im Norden des Shan-Staates bedeutet in der Sprache der Shan „die Stadt gegenüber dem Hügel mit vielen Adlern“. Die neue Bezeichnung Lasho (ohne i) steht für „Affenshow“.
Einer der bekanntesten Konflikte des Landes entbrannte 2012, als ein wütender Mob Geschäfte und Moscheen der muslimischen Rohingya im Westen des Landes angriff. In der Folge kam es zu einem Exodus. Bis zum heutigen Tage flohen fast eine Million Rohingya vor Übergriffen durch die Zivilbevölkerung und seit 2017 auch vor Angriffen der Tatmadaw, die Dörfer niederbrannte, Frauen vergewaltigte und wahllos Menschen erschoss.
Berichte über brennende Dörfer, Massenvergewaltigungen oder Erschießungen durch die Regierungsarmee gibt es jedoch seit fast 70 Jahren. Beispiele der systematischen Zerstörung der Kultur oder der Architektur ethnischer Minderheiten und Repressionen etwa gegen das Aufstellen christlicher Kreuze stützen die These des Völkermords. Der Ende August veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen spricht endlich konkret von einem Völkermord an den Rohingya.
Bevor die Pogrome gegen die Rohingya im Arakhan-Staat ausbrachen, hatte der in Mandalay ansässige Mönch U Wirathu eine Predigt gehalten, die als Auslöser für die Unruhen betrachtet wird. Passagen ähnelten den Parolen weißer Rassisten: „Wenn ihre Bevölkerung (bezogen auf die als „Kalar“ – gleichsam „Nigger“ – bezeichnete muslimische Bevölkerung) weiter wächst, […] werden sie uns unser Land wegschnappen. […] Unser Feind würde immer stärker und würde irgendwann gefährlich für uns werden. Eines Tages werden sie unsere Ressourcen wegnehmen.“ Falls man seiner Forderung nach einem Boykott muslimischer Geschäfte folge, „werden wir goldenen Bamar diesen Kampf gewinnen. Wir müssen unser Volk schützen.“ U Wirathu verbrachte wegen seiner radikalen nationalistischen Reden zwischen 2003 und 2011 acht Jahre im Gefängnis.
Natürlich hat die jahrzehnte-, wenn nicht sogar jahrhundertelange Unterdrückung auch bei den anderen Volksgruppen Spuren hinterlassen. Sie trauen den Bamar nicht mehr über den Weg, wenn dieses Misstrauen bisweilen nicht selbst zu Rassismus geführt hat. Die Eltern des vielleicht dreizehnjährigen Sai Muang wurden von Regierungstruppen erschossen. Er war damals gerade einmal vier Jahre alt. Auf die Frage, was er gerne beruflich machen würde, antwortete er: „Ich möchte Soldat werden. Ich will die burmesischen Soldaten erschießen.“ Der Historiker Jearng Sarng drückte es so aus: „Ein paar der regierenden Politiker sind gegen ein föderales System. Sie gehören nicht unseren Volksgruppen an. Daher misstrauen wir den Bamar.“
Tatsächlich lehnt die derzeitige Regierung die Forderung von Armeen der Volksgruppen nach Bildung einer föderalen Regierungsarmee ab. „Die Beteiligung und die Integration ethnischer Minderheiten in die Armee sehe ich durchaus als Ansatz für einen Frieden. Soweit mir bekannt, bestehen innerhalb der myanmarischen Armee auch Überlegungen, die Kämpfer der bewaffneten ethnischen Organisationen in die Armee einzugliedern. Ein Beitritt zum Nationalen Waffenstillstandsabkommen setzt jedoch auch voraus, dass die jeweilige ethnische Gruppierung ihre Waffen niederlegt“, meint Frau Dr. Bärbel Kofler, Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Aber ihr Misstrauen gegenüber der Tatmadaw lässt die ethnischen Gruppen zögern, denn ohne Waffen hätten sie nichts mehr in der Hand, um sich gegen eventuelle Angriffe der Regierungstruppen zur Wehr zu setzen.
Wie kann in einem Land Frieden einziehen, das jahrhundertelang von Kriegen zermürbt wird? Wo sich Minderheiten gegen eine dominierende, aggressive Mehrheit zur Wehr setzen müssen? Die amtierende Regierung wird immer noch zu großen Teilen von ethnischen Bamar beherrscht und hegt Vorbehalte gegenüber einer ernsthaften Integration und einer Selbstbestimmung der ethnischen Minderheiten. Die würde nämlich bedeuten, den Armeen der Minderheiten etwa die Verteidigung oder die autonome Selbstverwaltung ihrer Staaten anzuvertrauen. Einigen ist dies in Teilen bereits im sogenannten Panglong-Vertrag von 1947 zugestanden worden. Dieser Vertrag wurde jedoch nie in die Realität umgesetzt. Stattdessen schlitterte das Land ins Chaos und in die fast 50 Jahre andauernde Militärdiktatur.
Am 12. Juli dieses Jahres wurde die dritte Runde einer Panglong-Konferenz des 21. Jahrhunderts eingeläutet, um den politischen Dialoge neu auszurichten, die Verfassung im Sinne aller beteiligten Parteien umzuschreiben, einen landesweiten Frieden herbeizuführen und schließlich einen zweiten Panglong-Vertrag zu unterzeichnen. Bislang blieben die neuen Panglong-Verhandlungen jedoch ergebnislos.
Nicholas Ganz (Jahrgang 1976) lebt als freier Fotograf und Autor in Berlin. Seit mehr als 12 Jahren beschäftigt er sich mit Burma, hat das Land häufig bereist und dort recherchiert. Weitere Informationen im Internet.
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