21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Keine Tulpen in Amsterdam

von Alfons Markuske

Venedig habe noch zehn Jahre, so unken diverse Auguren, dann versinke die Stadt endgültig in der Lagune, weil die Venezianer vor Jahrhunderten die Verstärkung der Tragfähigkeit des sandig-matschigen Baugrundes für ihre Palazzi, Kirchen und anderen Gebäude durch in den Boden gerammte Holzpfähle nicht hinreichend gemeistert hätten …
Die Amsterdamer Baumeister hatten mit der gleichen Methode offenbar ein glücklicheres Händchen, denn auch diese Stadt wurde in wasserreichem Umfeld auf unzähligen Eichenpfählen errichtet. Die Fassade des alten Rathauses (und nachmaligen Königspalastes) im Zentrum der Stadt etwa, das diese sich in freudvollem Überschwang nach Verbriefung der staatlichen Unabhängigkeit durch den Westfälischen Frieden von 1648 als massiven fünfgeschossigen steinernen Prunkquader von 80 mal 56 Meter Kantenlänge, gegründet auf 13.659 Eichenpfähle, hinklotzte, weist auch heute noch keinerlei Risse, geschweige denn Absenkungen auf. Dito die nicht minder massive Nieuwe Kerk (Neue Kirche) in unmittelbarer Nachbarschaft, eine spätgotische Basilika, die schon lange säkularisiert ist und die, obzwar sie seit 1814 als Krönungskirche des niederländischen Königshauses fungiert, heute vor allem für Ausstellungen und Konzerte genutzt wird.
Die zur Baugrundbefestigung benötigten Eichenpfähle übrigens holte man sich, nachdem die eigenen Bestände einmal abgeholzt waren, unter anderem aus dem Schwarzwald, wo es in der Konsequenz keinen Mischwald, sowie aus Ostfriesland und aus der Gegend um das norwegische Bergen, wo es seither überhaupt keinen Wald mehr gibt.
Und apropos niederländisches Königshaus: In die europäische Geschichte traten die Vereinigten Niederlande nach einem 80-jährigen Befreiungskrieg gegen die spanischen Habsburger bekanntlich als bürgerliche Republik ein. Deswegen ging es im Lande zwar keineswegs grundsätzlich gesitteter zu als in den Nachbarländern. 1672 zum Beispiel, dem Rampjaar (Katastrophenjahr) schlechthin der niederländischen Nation, als England, Frankreich, Köln und Münster zugleich dem Land den Krieg erklärten und das das Ende des Goldenen Zeitalters und der niederländischen Weltmacht – dazu detaillierter im abschließenden Beitrag – einläutete, wurden Johan de Witt, der dazumal seit rund 20 Jahren führende niederländische Staatsmann und einer der ersten bürgerlichen Politiker an der Spitze einer Großmacht, und sein Bruder Cornelis einem Mob überlassen, der sie lynchte, ihre Leichname entsetzlich verstümmelte und schließlich am Schafott öffentlich zur Schau stellte. Letzterer Akt, auf einem Gemälde festgehalten, kann heute noch im Reichsmuseum – mehr zu diesem ebenfalls im abschließenden Beitrag – besichtigt werden. Doch mit Monarchie, wie gesagt, hatten die Niederländer nichts am Hut.
Die führte erst Napoleon ein, der am 5. Juni 1806 seinen Bruder Louis zum König des Landes proklamieren ließ. Nachfolgend kam zweierlei zusammen: die nationale Eigentümlichkeit der Einheimischen, selbst unter widrigen Bedingungen (hier: Fremdherrschaft) nicht gleich auf stur zu schalten, sondern erst einmal abzuwarten, wie eine Sache so läuft, und das atypische Verhalten jenes Louis, der nicht nur nicht die Knute des Usurpators einsetzte, sondern der zum Beispiel einiges für die Gesundheitsversorgung im Lande tat und der vor allem passiv blieb, als die Einheimischen durch fortgesetzten intensiven Handel mit London Napoleons Kontinentalsperre eklatant unterliefen. Nicht zuletzt ließ er der niederländischen Sprache ihre Vorrangstellung und bemühte sich auch persönlich um diese, wenngleich mit persönlich eher zweifelhaftem Erfolg. Wegen schlechter Aussprache kam sein „Ich bin euer König!“ am Ende einer Rede beim Volk als „Ich bin euer Kaninchen.“ an. Mit einem Wort: Louis erwarb sich eine gewisse Beliebtheit unter seinen Landeskindern. Dem tat auch der Sachverhalt keinen Abbruch, dass er, weil Amsterdam eines repräsentativen Bauwerkes zur Unterbringung der königlichen Familie ermangelte, kurzerhand das eingangs erwähnte Rathaus für diesen Zweck umwidmete.
So bereitete Louis’ Regentschaft mit den Boden dafür vor, dass sich schließlich ein Wilhelm aus dem Hause der Oranier auf den Thron schwingen konnte, nachdem Louis 1810, Napoleons strafende Hand wegen der Unbotmäßigkeit in Sachen Kontinentalsperre fürchtend, abgedankt hatte, respektive ins Exil gegangen war und der zürnende Bruder im Juni 1815 sein Waterloo gefunden hatte.

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Die Bürgerhäuser an Amsterdams historischen Grachtenvierteln mit ihren pittoresken Sträßchen und Gässchen stehen Wand an Wand, denn Platz war knapp. Die meisten Vorderfronten sind sehr schmal; Steuern bemaßen sich früher nach der Breite eines Hauses zur Gracht hin. Das schmalste, dessen wir ansichtig wurden, misst 1,75 Meter. Die Geschichte eines noch schmaleren geht so: Ein Angestellter wohlhabender Amsterdamer soll gebarmt haben, er hätte auch gern ein Haus – und sei es nur so breit wie die Haustür seiner Herrschaft. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt …
Bei fast allen Häusern in Amsterdams Grachten ragt unter dem Dachfirst ein Hebebalken aus der Vorderfront – zum Anbringen eines Flaschenzuges, denn in den Obergeschossen befanden sich die trockenen Lagerräume für die wirklich wertvollen Dinge, die Waren, mit denen man Handel trieb. In den feuchten und schimmeligen Souterrainbereichen hingegen brachte man gern das Hauspersonal unter, das in diesen idealen Biotopen für Tbc und andere schwerwiegende Erkrankungen sein 30. Lebensjahr oft nicht erlebte.
Die Fassaden nicht weniger Grachtenhäuser sind übrigens erkennbar nach vorn geneigt. Da hatten die Erbauer nicht etwa zu tief ins die ortsüblichen Genever- oder Bols-Gläser geschaut, sondern man konnte auf diese Weise auch sperrige Waren so in die oberen Speicherräume transportieren, dass man sich dabei nicht die Fensterscheiben der darunterliegenden Wohnräume demolierte. Fensterglas war weiland ein teurer Luxus, und man wollte, was man an der Unterbringung des Hauspersonals gerade glücklich reingespart hatte, ja nicht gleich wieder zum Fenster hinauswerfen.

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Sich als Fußgänger tagsüber in den Grachtvierteln zu bewegen, ist auch im Frühherbst – wir reisten extra zu dieser Zeit, um angesichts der Amsterdam alljährlich heimsuchenden Touristenschwemme auf jeden Fall „außerhalb der Saison“ zu sein – alles andere denn ein Vergnügen. Himmel und Menschen. All the time. Und zwar unter verschärften Bedingungen. Praktisch jede Freifläche, auf der Fußgänger flanieren könnten, ist mit jenen Myriaden der 600.000 Amsterdamer Fahrräder zugeknallt, die gerade nicht bewegt werden. Die eigentlichen Straßenbreiten teilen sich dann Rad- und Autofahrer. Der häufig nur handtuchbreite Rest ist zwar Trottoir, aber auf dem sind wiederum Fahrräder und Motorroller geparkt. Und das alles, obwohl Fußgänger im Straßenbild Autofahrer zahlenmäßig um eine Dimension gegen unendlich übertreffen und Radfahrer auch noch locker um Größenordnungen! Aber irgendwie muss – verkehrsplanungsseitig – die Spezies Pedestrian im historischen Teil von Amsterdam schon vor langem zur Quantité négligeable geschrumpft sein …

Wird fortgesetzt.