von Edgar Benkwitz
Nach allen Meinungsumfragen ist er der populärste Regierungschef, den Indien je hatte. An Narendra Modis Beliebtheit reichen selbst der legendäre Staatsgründer Jawaharlal Nehru und dessen Tochter Indira Gandhi, die den Erzfeind Pakistan militärisch besiegte und territorial halbierte, nicht heran. Doch deren Taten sind für die heutige Generation längst Geschichte. Für sie ist allein die Gegenwart interessant, nur hin und wieder gibt es einen Blick in die Zukunft.
Diese Gegenwart wird seit fast fünf Jahren politisch von der hindunationalistischen Indischen Volkspartei(BJP) mit Premierminister Narendra Modi an der Spitze bestimmt. Dessen Amtszeit läuft im kommenden Frühjahr aus und für die anstehenden Neuwahlen scharren die politischen Kräfte des Landes schon kräftig mit den Füßen. Die BJP setzt selbstbewusst auf einen Wahlsieg. Doch wird es wohl kaum eine Wiederholung des Ergebnisses von 2014 geben, als die Partei im Parlament die absolute Mehrheit errang. Damals griff sie aus der Opposition heraus an und fegte die amtsmüde und erlahmte Kongresspartei aus den Ämtern. Modi gelang es, neuen Elan in die Politik zu pumpen und insbesondere bei den aufstrebenden Mittel- und Unterschichten Begeisterung und Enthusiasmus zu wecken. Jetzt ist das gewährte Vertrauen weitgehend aufgebraucht, der Enthusiasmus verflogen. Modis Versprechen, dass unter ihm „achhe din“ – gute Zeiten – einziehen würden, gilt heute nur für Wenige.
Ein Blick auf die letzten Jahre zeigt jedoch auch, dass sich Indien in einer komplizierter werdenden Welt erfolgreich den neuen Herausforderungen gestellt hat. Es ist heute auf vielen Gebieten nicht mehr zu übersehen. Nach Angaben der Weltbank steht es gemessen am Bruttoinlandsprodukt(BIP) mit Großbritannien und Frankreich nahezu gleichauf. Mit einer Zuwachsrate von über sieben Prozent wird es beide im nächsten Jahr überholen. Hinter den USA, China, Japan und Deutschland wird es dann – allerdings mit großem Abstand – an fünfter Stelle in der Welt stehen. Auswirkungen hat diese Entwicklung nicht zuletzt auf die soziale Struktur der indischen Gesellschaft. Verschiedene Indices berechnen übereinstimmend, dass die riesige Armut zurückgeht. So berichtet der „Index der mehrdimensionalen Armut“ des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, dass in den letzten zehn Jahren die Armut von 55 auf 28 Prozent der Bevölkerung gesunken ist – von vormals 500 Millionen auf jetzt 271 Millionen Menschen. Dieser Anteil soll weiter verringert werden, so dass zumindest das schlimmste Elend reduziert wird.
Neben einheimischen Programmen stellt die Weltbank in den nächsten fünf Jahren 25 bis 30 Milliarden Dollar zur Verfügung, um Indien den Übergang von einem sogenannten niedrigen mittleren Einkommensland in ein hohes mittleres Einkommensland zu erleichtern. Doch auch die Spitze der Gesellschaft profitiert vom wirtschaftlichen Aufschwung. Die Zahl der Milliardäre stieg 2017 besonders schnell und beträgt 104 (nach anderen Berechnungen 137), womit Indien weltweit auf Platz 4 liegt. Millionäre gab es 264.000. Noch nie klafften die Einkommensunterschiede so weit auseinander, ein Prozent der Bevölkerung besitzt die Hälfte des privaten Reichtums.
Wie keine Regierung in der jüngsten Geschichte Indiens setzt die jetzige auf einen forcierten Nationalismus, dessen Grundlage Religion und Lebensweise des Hinduismus ist. Dieser Hindunationalismus stellt eine Gratwanderung dar, denn eine bisher weitgehend säkulare Staatspolitik, Garant für die Einheit des Landes, wird in Frage gestellt. Zwangsläufig richtet sich diese Ideologie, die oft in Chauvinismus ausartet, gegen Andersgläubige und -denkende. Betroffen sind insbesondere Muslime und Christen, aber auch die geistigen und kulturellen Eliten des Landes mit einer aufgeklärten und toleranten Lebensweise.
Doch die Regierungspartei hat vorerst ihr Ziel erreicht: im ganzen Land konnte sie ihre Herrschaft ausbauen. Sie regiert mittlerweile in 21 von 29 Unionsstaaten. Erleichtert wurde ihr das durch den desolaten Zustand der politischen Opposition. Die einst einflussreiche Kongresspartei steckt noch in der Krise, in die sie durch die schwere Niederlage bei den Parlamentswahlen gestürzt ist. Es ist ihr bisher nicht gelungen, ein überzeugendes Programm vorzulegen. Hinzu kommt, dass die Nehru-Gandhi-Familie ihren dynastischen Zugriff auf die Partei durchgesetzt hat. Mit Rahul Gandhi als neuem Präsidenten wird zwar eine nahezu 100jährige Familientradition fortgesetzt, doch mangelt es dem 48jährigen an vielem, was seine Vorgänger in diesem Amt auszeichnete. Zu fehlenden politischen Erfahrungen gesellt sich mangelndes Engagement, das durch Aktionismus ersetzt wird. Rahul Gandhi haftet auch das Stigma eines abgehobenen Vertreters der Oberschicht (Brahmane) an, was den Kontakt zu den Massen erschwert. Bei den einflussreichen Regionalparteien ist er nicht beliebt, hier pocht er auf die Rolle als Führer einer geeinten politischen Opposition gegen die Modi-Partei. Ob die gewünschte Oppositionsfront je zustande kommt ist fraglich, zu groß sind die divergierenden Interessen der Beteiligten.
Premierminister Narendra Modi wird auch bei den bevorstehenden Wahlen das Zugpferd seiner Partei sein. Als ausgebildeter Agitator und späterer Funktionär der Hindu-Kernorganisation RSS versteht er es sehr gut, mit demagogischen Mitteln zu arbeiten. Er lernte dort aber auch Disziplin, Effizienz und Engagement. Eigenschaften, die ihn auch als Regierungschef auszeichnen. Als Angehöriger einer niederen Kaste, der in seiner Jugendfliegender Teeverkäufer bei der Eisenbahn war, rückt er vor allem immer wieder die Themen Sauberkeit, Hygiene und Gesundheit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit – Gebiete, bei denen Indien einen äußerst schlechten Ruf hat. Bisherige Tabuthemen wie die katastrophale Toiletten- und Fäkalienfrage machte er sogar zum Gegenstand seiner Ansprachen zum Nationalfeiertag. Mit dem Besen in der Hand fegte er die Straßen Delhis, so alle höheren Kastenangehörigen beschämend, denen eine solche Tätigkeit unter ihrer Würde ist.
Narendra Modi verfügt auch international über einen guten Ruf. Er krempelte die vor sich hin plätschernde Außenpolitik seines Landes um, setzte neue Schwerpunkte und suchte durch Pragmatismus immer wieder Vorteile für sein Land zu gewinnen. Zu den Staatenlenkern dieser Welt – von Obama und Trump, Putin, Xi, Macron bis Abe – hat er persönliche Beziehungen und Arbeitskontakte entwickelt. Mit Erfolg setzte er das enorme geostrategische Gewicht Indiens bei Verhandlungen ein. Das wirkt vor allem gegenüber den USA mit ihrer Pazifik/Indik-Doktrin und hat erst einmal zu einer Festigung der Positionen gegen die Rivalen China und Pakistan geführt. Doch Indien vergibt nicht allen Handlungsspielraum, die guten Beziehungen mit Russland werden trotz Drucks nicht aufs Spiel gesetzt, gegenüber China lässt man sich Optionen für eine Verbesserung des Verhältnisses offen.
Als erfolgreich aufstrebendes Schwellenland ist Indien wirtschaftlich zu einem Konkurrenten der etablierten Mächte geworden. Es beugt sich immer weniger deren Forderungen, drängt auf eine gleichberechtigte Behandlung. Eigentlich müsste die destruktive US-Politik Indien und die Europäische Union stärker zusammen führen, denn die Verwerfungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen schaden beiden. Doch trotz vieler guter Worte aus Brüssel, Paris und Berlin ist von einer Vertiefung der Zusammenarbeit wenig zu spüren. Im Gegenteil, Indien steht immer wieder in der Kritik. Vieles ist offensichtlich der Konkurrenzsituation geschuldet und wird – vordergründig durch die Medien – einseitig der gegenwärtigen Regierung angelastet.
In den kommenden Monaten tritt Indien wieder einmal in eine heiße Phase seiner politischen Entwicklung ein. Man darf gespannt sein, welche Register der bauernschlaue Modi und seine Mannschaft ziehen werden, um auf den schwindenden Rückhalt der Wählermassen zu reagieren. Die zu erwartende Polarisierung der politischen Kräfte wird sicherlich den Demagogen aller Couleurs Auftrieb verleihen. Zu hoffen ist, dass der Hindunationalismus nicht weiter angeheizt wird.
Schlagwörter: Armut, Edgar Benkwitz, Hindunationalismus, Indien, Indische Volkspartei BJP, Narendra Modi, Rahul Gandhi