von Thomas Ruttig, Kabul
Am 20. Oktober fanden in Afghanistan die Parlamentswahlen statt. Um genau zu sein: In 33 der 34 afghanischen Provinzen, denn aufgrund ethnischer Spannungen musste die Wahl in Ghasni abgesagt werden und soll nun am 20. April nächsten Jahres stattfinden, wenn auch der neue Präsident gewählt werden soll. Vorläufige Ergebnisse sind erst für den 20. November angekpndigt, das Endergebnis für den 20. Dezember. Wenn alles gut geht. Nachdem nun – auch durch Absage der erstmals geplanten Distriktratswahlen – zumindest klar ist, wer wo worüber genau abstimmen sollte, ist allerdings offen, ob die meisten Afghanen überhaupt die Chance dazu hatten.
Immerhin herrscht Krieg im Land. Die Taleban beherrschen etwa die Hälfte davon und sind auch in den übrigen Gebieten aktiv. Sie hatten die Bevölkerung aufgerufen, den Urnengang zu boykottieren, jene Kandidaten, die „noch nicht völlig ihre Freiheit aufgegeben“ hätten, sich zurückzuziehen, und ihre Kämpfer, „nichts unversucht zu lassen, den Wahlen Hindernisse in den Weg zu legen“. Natürlich unter strikter Achtung des Lebens und des Eigentums der Zivilbevölkerung. Die Sicherheitskräfte, die mit 55.000 Mann den Wahltag absichern sollen, hatten sie zum einzigen legitimen Ziel erklärt. Schon im Vorfeld der Wahlen war klar, dass nur etwa zwei Drittel der ursprünglich vorgesehenen 7366 Wahllokale öffnen sollten. Mehr, haben Armee und Polizei klar gemacht, könnten sie nicht schützen. Darum, ob und wo die Menschen dort abstimmen sollen, hat sich in Kabul niemand Gedanken gemacht.
Denn nicht nur der Krieg ist ein Problem, auch die extrem schlechte Vorbereitung der Wahlen. Trotz des langen Vorlaufs: Das letzte Parlament wurde im September 2010 gewählt, Neuwahlen hätten spätestens im Juni 2015 stattfinden müssen. Die wurden dann verschoben, weil erst Wahlreformen umgesetzt werden sollten. Doch da ist bis heute kaum etwas geschehen. Die Wahlreform, die die Nationale Einheitsregierung – die selbst eine Notlösung war, die nach den Streitigkeiten über den Ausgang der letzten Präsidentenwahl entstand – nach der Präsidentenwahl 2014 versprochen hatte, beschränkte sich auf einen Personalwechsel bei der Wahlkommission (IEC) und der davon getrennten Wahlbeschwerdekommission (ECC).
Angesichts wieder zu erwartender Manipulationen und organisatorischen Durcheinanders entscheiden diese Kommissionen am Ende, welche Stimmen gültig sind und welche disqualifiziert werden – beim letzten Mal waren es 1,3 von 5.4 Millionen Stimmen, also mehr als 20 Prozent – und damit über den Wahlausgang. Diese Kommission wollen die wichtigsten politischen Kräfte vor allem kontrollieren, denn dort kann effektiver manipuliert werden als über mit gefälschten Stimmzetteln vollgestopfte Wahlurnen, eine weitere weit verbreitete Methode von Wahlfälschung.
Das führte zu Verschwörungstheorien, von denen niemand sagen kann, ob sie nicht doch wenigstens eines der Planspiele der immer kleiner werdenden Machtclique um Präsident Aschraf Ghani waren: die Wahlen einfach ausfallen zu lassen, um die störende Einflussnahme der Legislative zu beseitigen. Das alte Parlament amtierte auf der Grundlage eines Präsidialdekrets zwar weiter, hatte sich aber im Wesentlichen in einen Papiertiger verwandelt: Einige Abgeordnete zogen sich zurück, weil sie die Legitimität des Dekrets bestritten, die meisten anderen schauen nur ab und zu einmal vorbei, und das Plenum erreichte kaum noch das für die Verabschiedung von Gesetzen notwendige Quorum.
So erging es auch dem Wahlgesetz. Das einzige, dem die Abgeordneten in einem seltenen Anflug von Liberalität und Toleranz zustimmten, war die Schaffung eines zusätzlichen gemeinsamen Sitzes für die beiden kleinen Minderheiten der Sikhs und Hindus. Von den einst einige Tausende zählenden, seit mindestens 400 Jahre im Land residierenden Gemeinschaften sind nur ein paar Hundert übrig. Nur 583 Wähler und ein Kandidat fanden sich – und der wurde bei einem Anschlag ermordet. Inzwischen konnte sein Sohn aufgrund einer Sonderregelung für ihn einspringen. Die meisten anderen sind nach den Übergriffen der Taleban und kalten Enteignungen ihres Landes durch örtliche Machthaber inzwischen nach Indien ausgewandert.
Abgesehen davon gibt es weitere ungelöste ältere Probleme. Es fehlt weiterhin ein verlässliches Wählerverzeichnis. Ein Zensus, der eine Grundlage für inklusive und faire Wahlen wäre, fand immer noch nicht statt. Die Arbeitsprozedur der ECC wurde nicht, wie lange gefordert, transparent gemacht. Deren Entscheidungen bei den letzten Wahlen wurden fast überhaupt nicht erläutert, so dass es jedem Kandidaten, jeder Kandidatin vorbehalten blieb, ihnen eben zu vertrauen oder eben auch nicht. Schritte zur Veränderung des Wahlsystems, um den politischen Parteien eine größere Rolle zu geben, wurden erneut so lange verzögert, bis es zu spät war. Im letzten Jahr vor dem Wahltermin darf das Wahlgesetz nicht mehr verändert werden. Und überhaupt haben fast ausnahmslos nur islamistische Parteien überlebt, die offizielle und inoffizielle Milizen kontrollieren, diese vor allem auf dem Land auch einsetzen, um die Wähler zu einem bestimmten Wahlverhalten zu zwingen, und deren demokratische Gesinnung man immer noch bezweifeln muss.
Es gibt erhebliche Zweifel daran, ob die IEC tatsächlich alle Wahllokale vor Ort inspiziert hat, wie sie behauptet, und ob die geografische Verteilung der Wahllokale auch die Verteilung der Bevölkerung widerspiegelt. Auch hier liegt erhebliches Potenzial, dass weiteren Teilen der Wahlbevölkerung die Teilnahme an der Abstimmung verwehrt oder erschwert werden könnte. Seit dem ersten Wahlzyklus 2004/05 wurden in gefährlichen Landgebieten Wahllokale aus Sicherheitsgründen mehr und mehr reduziert.
Nicht nur die Taleban sind ein Sicherheitsrisiko, sondern auch lokale Machthaber und von ihnen unterstützte Kandidaten, die von ihnen kontrollierte Milizen einsetzen, um Wähler einzuschüchtern. Aus der Erfahrung früherer Wahlen steht zu befürchten, dass selbst reguläre Sicherheitskräfte nicht neutral waren. 2010 sahen Beobachter, darunter der Verfasser, wie lokale Polizei- oder Armeeeinheiten Taleban-Agriffe vortäuschten, um Wahllokale räumen und Wahlurnen mit gefälschten Stimmzetteln füllen zu können.
Es gibt aber noch ein anderes Risiko. Sollten die diesjährigen Parlamentswahlen ein nur halb so langes Nachspiel von Auszählung, Neuauszählung und Bearbeitung von Einsprüchen hervorbringen wie die letzten im Jahr 2010, als dieser Prozess acht Monate lang dauerte, wird das direkt die Vorbereitung der Präsidentenwahl im April 2019 beeinflussen, die unmittelbar nach dem Oktobervotum beginnen muss und für die ebenfalls IEC und ECC zuständig sind.
Nicht nur die afghanische Regierung ist für all diese Probleme verantwortlich, sondern auch Afghanistans Geberländer und deren Bestehen darauf, dass die Wahlen trotz der tief verwurzelten Probleme jetzt durchgezogen werden. Die Geber haben lange nur die Durchführung von Wahlen – und nicht deren Qualität – als Kriterium für Fortschritt in Afghanistan angesehen. In diesem Jahr, mit einem amerikanischen Präsidenten, der gedroht hat, Afghanistan finanziell den Stecker zu ziehen, ist die Wahlübung deshalb von besonderer Bedeutung. Im November in Genf wird eine weitere Geberkonferenz stattfinden, und es wird befürchtet, dass Präsident Trump endgültig seine Geduld mit Afghanistan verlieren könnte, wenn die Parlamentswahlen wieder nicht stattfinden. Das wäre desaströs, denn die afghanische Regierung ist ohne die US-Finanzhilfe nicht überlebensfähig. Ihre Staatseinnahmen reichen nicht einmal aus, um die Verteidigungsausgaben zu decken. Wahlen abzuhalten, ohne die Rahmenbedingungen dafür in Ordnung zu bringen, ist jedoch langfristig ebenfalls destabilisierend. Darin besteht Afghanistans Wahldilemma.
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