21. Jahrgang | Nummer 20 | 24. September 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: diesmal Meese mit Mutti virtuell, Ursula Werner als Mama Kerkeling filmisch, als Geburtstagskind real, und Endgültiges über Brecht …

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Bloß einen bescheidenen 25-Quadratmeter-Raum braucht der ansonsten dem Minimalismus jeder Art fern stehende berühmt-berüchtigte Gesamtkunstwerker (Schreiber, Bildhauer, Performer, Theatermann) Jonathan Meese (48) für seine erste Virtual-Reality(VR)-Show im Berliner Martin-Gropius-Bau – inzwischen ist er weiter gezogen nach Linz zum Festival Ars Electronica.
Die gut zwei Meter hohen Wände seines klinisch weißen Kubus sind dekorativ mit Schleifen und Schlangenlinien bemalt. In der Ecke am Boden ein Bett mit zwei Krimis von Wallace, daneben ein Plüschsessel betrüblicher Farbgebung, ein Eimer mit Pinsel und knallroter Farbe, in der Mitte eine Handvoll drehbare Hocker fürs Publikum. Nur jeweils fünf Leute werden eingelassen, bekommen ein sturzhelmähnliches Riesengerät mit integriertem Fernsehbildschirm sowie Kopfhörern über die Schädel gestülpt und los geht die Acht-Minuten-Aktion mit dem Monumental-Motto „Mutter und Sohn = Realität trifft Kunst (Z.U.K.U.N.F.T. der Unendlichkeit)“.
Im Sturzhelm-TV sieht man den üppigen Haarschopf des schnarchenden Künstlers im Bett. Dann kommt Mutter Brigitte Meese, eine liebenswürdige Dame von 88 Jahren mit Bubikopf, Bluse, Strickjacke. Energisch weckt sie Sohnemann: „Aufstehen, Kunst machen!“ Und bringt Kaffee. „Ohne Zucker, weißt ja, darfst nix Süßes.“ Man plappert ein bisschen über Edgars Krimis. Nun springt der Künstler in klassischer Kluft (Adidas-Trainingsanzug) aus den Federn, macht schwungvoll los mit Kringeln und Schleifen. „Kunst ist einfach mal loslegen, und schon ist es geiler als Picasso.“ Den selbstherrlichen Satz bekommt man beim Einlass als Werbeaufkleber. „Ja, sieht gut aus“, kommentiert eine hereingeschneite Meese-Mutti zwei. – „Mami ist nicht wirklich, sie tut nur so“, erklärt Jonathan beim eifrig Pinseln. „Mami sprengt Realität und versechsfacht sich. Die Sechs ist eine umgedrehte Neun, die Zahl des Teufels, des Befehlshabers. Mutti ist mein Diktator, mein bester Kamerad.“ Also erwarten wir für die restlichen Minuten noch vier Brigitten! – Da ist auch schon die dritte mit einem Lutscher aus rotem Zucker (Lebensmittelfarbe). Dazu im Kopfhörer Klangwolken vom Saxophon aus Meeses kraftmeierisch exzessiver Wagner-Monumental-Fantasy „Mondparsifal“ (anno 2017 im Theater an der Wien). Mutti vier fragt, ob sie Klecksereien auf dem Fußboden wegwischen soll. „Nee!“ Die fünfte hat einen Fotoapparat, knipst Jon zusammen mit vier seiner Befehlshaberinnen. Dann muss das Überkind (als das Meese sich sieht) weiter mit seinem roten 360-Grad-Unendlichkeitswirrwarr an den vier Wänden. „Ich denke dabei nicht. Malen ist wie Atmung. Kann jeder.“ Derweil krabbelt uns ein Spielzeugroboter zwischen die Füße – kein Schrecken, alles nur virtuell, Traum, Chimäre, „der Zwischenraum für die Kunst, die Realitäten sprengt“, weiß Meese.
Und schon ist Schluss. Helm ab und alles wie zuvor, als sei nix gewesen. Chimäre! Ach ja, Mami Nr. 6 kam noch schelmischen Blicks herein mit einem Bildnis vom Kollegen Gesamtkunstwerker Wagner. – Das Ganze ein lustig kindlicher, freilich technisch wie personell (lange Stabliste) enorm aufwändiger, höchst kostspieliger, obendrein philosophisch arg umwölkter Scherz aus dem VR-Probierstübchen zum Thema „Möglichkeiten und Grenzen der Medien Virtual Experience und 360-Grad-Film“. Oder anders gesagt: Rundum-Späßchen für Leute mit sehr spezieller Brille.

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Sie war die erste Charlie im DDR-Kultstück „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf (Uraufführung Halle 1972). Und die Mascha in Thomas Langhoffs legendärer Tschechow-Inszenierung „Drei Schwestern“ am Berliner Gorki-Theater. In einem anderen aufrührerischen DDR-Kultstück, gut ein Jahrzehnt nach der Plenzdorf-Uraufführung, da war sie die Mascha „zwei“: in Volker Brauns Tschechow-Paraphrase „Die Übergangsgesellschaft“ wieder unter Langhoff und wieder am Gorki.
Dabei wäre es um ein Haar nichts geworden mit Ursula Werner und der Schauspielschule; wegen ihres Hardcore-Berlinisch. Doch dann bekam sie noch als Studentin an der Ernst-Busch-Schule ihre erste Rolle in der für damalige Verhältnisse kess pikanten DEFA-Komödie „Frau Venus und ihr Teufel“. Demnächst, am 28. September, feiert die Urberlinerin vom Prenzlauer Berg ihren 75. Geburtstag. Längst kann die Volksschauspielerin perfekt Hochdeutsch, aber nach wie vor deftig Berlinern, wenn’s denn sein muss.
Inzwischen hat auch sie, wie sich’s gehört, ihre Erinnerungen aufgeschrieben; Titel: „Immer geht’s weiter…“ (Verlag Das Neue Berlin). Im flotten Plauderton, lakonisch distanziert und ohne viel Gewese um die philosophischen, ästhetischen und politischen Dimensionen ihres Berufs, ihrer oft großartigen, sehr oft aber auch großartig kleinteiligen Arbeit. Die Uschi, wie sie am Theater hieß, ist bis heute ein Publikumsliebling. Sie kann so schmerzlich heulen, dass der Saal erstickt, und herzbefreiend drauflos lachen, dass der Saal kracht. Denn die Werner aus dem Kleine-Leute-Milljöh ist ein sehr geerdeter, ungemein lebenspraktisch veranlagter Mensch – und dabei doch mit viel Sinn für das Ungereimte, so ganz und gar Unpraktische, das in unser aller Dasein steckt. Ihre noch immer bübische, ja rotzbübische oder mädchenhafte oder eben auch plebejisch zupackende Art, ihre Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit zwischen zart und herb und hart, naiv, herzig und durchtrieben führte zu Besetzungen der unterschiedlichsten Art; auch beim Film.
Der Umbruch nach 1990 bescherte ihr, neben letzten großen feinen Rollen am Gorki, wo sie bis 2009 beheimatet war, eine tolle Alterskarriere als begehrter Gast an anderen Theatern, beispielsweise den Münchner Kammerspielen. Oder Aufgaben vor der Kamera wie die Hauptrolle in Andreas Dresens Erfolgsfilm „Wolke 9“ über Liebe und Liebeslust in reiferen Jahren. – Vorfreude: Zu Weihnachten wird im Kino die Verfilmung der Autobiographie von Hape Kerkeling „Der Junge muss an die frische Luft“ Premiere haben. In der Hauptrolle Devid Striesow, Ursula Werner spielt seine Oma Berta. Schönes Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk für die Uschi – und uns.

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„Die endgültige Darstellung von Bertolt Brechts Leben und Werk.“ Was für eine Verlagsankündigung! Dabei dachten wir, längst alles über Brecht zu wissen, gehört der doch zu den am intensivsten ausgeforschten Autoren des letzten Jahrhunderts. Die Sekundärliteratur ist unübersehbar, die Biografien über den großen Raucher sind dicke Wälzer: So ärgerten wir uns beispielsweise über die von üblen Vorbehalten durchwucherte Biografie des US-Amerikaners John Fuegi (1086 Seiten); waren dankbar für das mit soliden Werkanalysen gespickte Brecht-Bild von Jan Knopf (nur 560 Seiten) und lagern tief unten im Regal die DDR-korrekte Brecht-Bewältigung von Werner Mittenzwei (1400 Seiten). Und immer wieder wird gern nachgeschlagen in Werner Hechts akribischer, großartig detailreicher Brecht-Chronik (1315 Seiten).
Doch neuerdings gibt es für 58 Euro bei Suhrkamp das 1030-Seiten-Buch „Brecht“; das, wie gesagt, einschlägig „endgültige“. Der Verfasser ist Stephan Parker, ein Germanistik-Professor der Universität Manchester. Für ihn sprechen schon mal zwei Dinge: zum einen seine britische coolness, zum andern der räumlich und zeitliche Abstand zum Subjekt seiner sezierenden Betrachtung. Für Parker ist „der arme b.b.“ weder Hass- noch Verehrungsfigur, vielmehr bleibt er stets der nüchterne Forscher, auch wenn er sich diskret wundert über manche ideologische Schlachten von einst. Sehr zu empfehlen für Brecht-Neueinsteiger. Für Liebhaber, die ihren Brecht nochmal einigermaßen neu kennenlernen wollen, ein aufschlussreicher Schmöker. – Übrigens, bemerkenswert ist Parkers Erörterung der Brecht-Krankheiten (lebenslange Herz- und Nierenprobleme). Je mehr der Dichter kränkelte, so könnte man sagen, desto dramatischer haute Bertolt (mit t!) auf den Putz – im Privaten wie Literarischen. Interessante Bezüglichkeit.